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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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es dreiviertel neun geschlagen hatte, als er mit dem Essen fertig war. Also hatte er mit dem Motorrad wenigstens fünfzig Minuten für die Strecke Bern-Pfründisberg gebraucht. Zehn Minuten – Gespräch mit Wottli vor der Haustür. – Dreißig Minuten – z'Nacht essen. Fünfzehn Minuten – Brissago, Abendblatt. Er war also zwischen halb und dreiviertel acht angekommen…
    »Hock ab, Ludwig«, sagte er. Und, zur Saaltochter gewandt, fügte er hinzu: »Huldi! Bring ihm en Becher Hells.«
    Und erst nachdem das Knechtli sein Bier getrunken hatte, forderte Studer es auf, sich die Stirn abzuwischen.
    »Bist gesprungen?«
    »Jaja.« Ludwig nickte ein paarmal. Er habe gemeint, es pressiere. Studer hob seine mächtigen Schultern. Pressieren! Wenn jemand einen Raum betrat, der mit Blausäuregas gefüllt war, so brauchte sicher niemand zu pressieren, um ihn wieder herauszuholen. Drei Minuten genügten, nachher war jeder Rettungsversuch vergeblich.
    »Erzähl jetzt, wie's zugegangen ist – deine Eile war unnötig.« Ludwig Farny war erstaunt; er riß die blauen Augen auf und starrte den breiten Mann an. Es war das erste Mal, daß er ihn Schriftdeutsch reden hörte. Und er probierte, dem Wachtmeister dies nachzumachen.
    »Ich habe«, begann er, zögerte, verbesserte sich dann:
    »Ich hörte«, sprach er, »großen Lärm. Und von diesem Lärm wachte ich auf. Es war dunkel im Zimmer. Wissen Sie, Herr Studer (der Wachtmeister senkte den Kopf, damit niemand ihn beim Lächeln ertappte. Zum Donner! ›Sie‹, sagte das Knechtlein, und aus der Schule erinnerte es sich wohl an die Mitvergangenheit), um halb sieben sperrte uns der Wott… der Herr Wottli ein. Ich begleitete die beiden zuerst, als sie das Gewächshaus räuchern wollten. Denn Sie hatten mir doch gesagt, ich müsse auf meinen Bruder aufpassen…«
    Ludwig Farny schwieg kurze Zeit. Sein Atem ging noch immer schnell und seine Augen waren weit aufgerissen. Dann fuhr er fort:
    »Viertel ab sechs war alles fertig, und der Lehrer drehte den Schlüssel im Schloß. Drinnen brannte noch die Lampe und ich blickte durch das Glas. Denn wißt Ihr, Herr Studer, im oberen Teil hat die Tür Scheiben und durch sie kann man gut das Innere des Treibhauses sehen… Orchideen auf einem Tablett links, in der Mitte hohe Palmen und kleiner Rittersporn – Delphinium chinense hat ihn der Lehrer genannt, er züchtete ihn für die Festtage. Auf dem Weg zum Schulgebäude hat der Herr Wottli uns noch ausgefragt, er wollte wissen, was Sie gefunden hätten im Schaft vom Ernst – aber mein Bruder hat nichts gesagt. Er schwieg immer, schaute hierhin und dorthin, so als ob er auf etwas warten täte. Ich fragte ihn, ob er jemanden suche – aber er schüttelte nur den Kopf. Dann standen wir im Zimmer und hörten, wie der Lehrer fortging – merkwürdig war nur eins, daß er nicht die Tür verschloß. Der Ernst stellte sich ans Fenster und blickte hinaus. Plötzlich sagte er, er wolle noch schnell etwas aus seinem Pult holen, er ging fort, ich wollte ihm folgen, aber er bat mich, ihn allein zu lassen. Eine halbe Stunde blieb er fort, kam dann mit leeren Händen wieder. Und kaum war er im Zimmer, machte der Lehrer Wottli die Türe auf und sagte: »Wenn Sie allein im Hause umhergehen, so muß ich Sie einschließen. Ich werde Ihre Abwesenheit natürlich melden.« Der Ernst zuckte mit den Achseln und dann hörten wir, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Der Ernst zog sich aus und legte sich ins Bett. Ich auch. Aber mein Bruder löschte dann das Licht – und ich schlief gleich ein.«
    »Was?« fragte Studer erstaunt. »Du bist schon um sieben Uhr eingeschlafen?«
    »Es war später, glaub' ich. Genau kann ich's nicht sagen. Denn – etwas hab ich vergessen: Der Lehrer kam noch einmal und brachte uns das Nachtessen: gebratenen Mais mit gedörrten Pflaumen als Kompott und Milchkaffee. Ja. Wir aßen und gingen erst nachher ins Bett…«
    Warum… Warum nur blieben die beiden Direktoren im Nebenzimmer? Die Türe war noch immer geschlossen.
    »Weiter!« knurrte Studer. »Und vergiß nicht immer die Hälfte!«
    »Jaja… Plötzlich hab' ich Lärm gehört und bin aufgeschreckt. Ich sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Da sah ich, daß ich allein im Zimmer war – und das Fenster stand offen. Ich beugte mich über die Brüstung. An der unteren Angel vom grünen Laden war etwas Weißes. Der Ernst hatte zwei Leintücher zusammengeknüpft, die reichten bis zum Boden und an diesen war er zum Fenster

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