Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
Vom Netzwerk:
alles in Ordnung sei.«
    »Hmmm…« Studer hielt seine magere Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und schien zu lauschen. Durch das zerbrochene Fenster hörte er einen merkwürdigen Laut, der klang wie das Murmeln einer Volksmenge. Als er die Flügel aufriß, sah er unten eine Versammlung. Etwa dreißig Gesichter wurden vom Lichte beschienen, das aus dem Zimmer quoll. Und diese Fratzen erkannte der Wachtmeister sogleich: Heute morgen hatten sie ihn ausgegrinst, als er aus dem Hofe der Armenanstalt geflohen war… Alle Schüler der Gartenbauschule schienen sich eingefunden zu haben und starrten zum Fenster empor.
    Wieso kam es Studer vor, als sei das Ganze eine abgekartete Sache? Besser: eine einstudierte Komödie? Die Armenhäusler hatten doch keinen Grund, sich am Wirte und an der Serviertochter zu vergreifen! Es sah ganz so aus, als habe der Krach dazu gedient, die Gartenbauschüler herbeizulocken. Worauf hatte der Schwiegervater des Direktors sonst wohl gewartet? Was bedeutete sein Lauschen? Und: Warum hatte er in Wottlis Begleitung sogleich das Zimmer verlassen? Noch etwas fiel dem Wachtmeister auf, als er sich stumm aufs Fensterbrett lehnte: Das Erdgeschoß der Gartenbauschule war hell erleuchtet und rechts vom Hauptgebäude, etwa fünfzig Meter von ihm entfernt, schien ein Würfel, ein gläserner Würfel, zu glühen. Das Gewächshaus…
    Ängstlich suchte Studer die Fenster der Hausfront ab – im ersten Stock waren sie verdunkelt und geschlossen. Wenn man aber genauer hinsah, konnte man die Scheiben erkennen, denn sie warfen, spiegelnd, winzige Lichtfetzen zurück. Das letzte Fenster jedoch war offen und vom Sims bis zur Erde hing etwas Weißes, das im Föhnwind hin und her pendelte. Denn der zu Mittag eingeschlafene Wind war aufgewacht und hatte den Nebel vertrieben.
    Als Studer wieder hinab zu den Schülern blickte, um Ernst Äbi zu finden, den er einem ehemaligen Armenhäusler zur Bewachung übergeben hatte, gelang es ihm nicht, den Verdächtigen zu entdecken. Doch plötzlich drängte sich eine neue Gestalt mühselig durch die Gruppe.
    »Wachtmeister!« rief Ludwig Farny. »Wachtmeister Studer! Chömmed, chömmed! Der Brüetsch ligt im Gwächshuus!«
    Gedankenverbindungen werden schnell geknüpft. Studer dachte: Gewächshaus – Ausräucherung – Blausäure… Dann rief er dem Knechtlein zu, es solle zuerst heraufkommen. Er schloß das Fenster –, in einer Ecke hockte die Serviertochter auf einem Stuhl, bleicher noch als sonst war die Haut ihres Gesichtes. Stockend fragte sie, ob dem Ludwig etwas passiert sei. »Nein!« brummte der Wachtmeister. »Dein Schatz kommt grad.« Ludwig! Immer der Ludwig! Die Tür zum Nebenzimmer war geschlossen, die Gangtür ging auf und das Knechtlein betrat den Raum.

Im Gewächshaus
    »Es ist nicht meine Schuld, Herr Studer! Er ist mir durchgebrannt, der Ernst! Ich weiß schon, ich hätt' aufpassen müssen, aber ich war so müd, Herr Studer, so müd! Den ganzen Tag hab ich mich geplagt, damit Ihr zufrieden seid. Ich bin eingeschlafen, Herr Studer, nachdem uns der Wottli wieder eingeschlossen hat. Auch der Ernst ist ins Bett und hat geschnarcht. Jetzt weiß ich, daß er sich nur verstellt hat – aber damals hab ich geglaubt, er schläft wirklich! Wirklich ! Ich kann weiß Gott nichts dafür!«
    Der Wachtmeister setzte sich rittlings auf einen Stuhl, legte die Unterarme auf die Lehne und schwieg. Wenn alles durcheinander ging, wollte er zuerst das Ganze in Ruhe überdenken, um nachher einen Entschluß fassen zu können. Um sechs Uhr hatte Paul Wottli mit dem Räuchern begonnen, um sechs Uhr fünfzehn war er fertig geworden. Gut. Dann führte er die beiden – übrigens warum hatte der Lehrer nur vom Ernst gesprochen und den Ludwig gar nicht erwähnt? – führte er also die beiden ins Krankenzimmer zurück und schloß sie dort ein. Ja, aber: er hatte erzählt, daß er seinen Schüler um halb sechs schon geholt habe. Angenommen, er habe eine Viertelstunde für die Vorbereitungen zum Ausräuchern gebraucht, so war da dennoch eine Viertelstunde, deren Inhalt man nicht kannte. Hungerlott behauptete, er habe seinen Schwiegervater viertel vor sechs am Bahnhof getroffen – also war er, wenn er schnell gefahren war, frühestens fünf Minuten nach sechs angekommen. Da aber Nebel herrschte, hatte er sicher länger gebraucht und Pfründisberg erst gegen halb sieben Uhr erreicht. Studer erinnerte sich, daß die Bahnhofsuhr zehn vor sieben zeigte, als er unter ihr vorbeifuhr, und daß

Weitere Kostenlose Bücher