Der Chinese
sagte Münch. »Darum hab ich dir auch nicht erzählt, daß mich der Farny am 25. Juli, morgens um elf Uhr besucht und mich zuerst über dich ausgefragt hat. Alles mögliche wollte er wissen: Ob du Erfolg habest in deiner Karriere, warum du es nur bis zum Wachtmeister gebracht habest und anderes mehr. Da sang ich dein Lob und erklärte ihm, daß in unserem Lande nur die Leute Erfolg hätten, die irgendeiner Partei angehörten. Der Studer aber war nie bei einer Partei – im Gegenteil. Einmal hat er sich in einer Bankaffäre, die vertuscht werden sollte, weil einige bekannte Leute darin kompromittiert waren, bös die Finger verbrannt. – ›Ah!‹ sagte Farny darauf. ›Das ist interessant!‹ – Na, meinte ich, für den Studer sei das nicht interessant gewesen, denn dadurch habe er seine Stelle verloren und von vorne anfangen müssen. Höher als zum Wachtmeister werde er es wohl nicht bringen, denn erstens habe er keine Verwandten (und Protektion nenne man in der Schweiz einfach ›Vetterliwirtschaft‹) und zweitens lasse man allzugescheite Leute gerne an den unteren Stellen kleben und bediene sich ihrer nur, wenn man sie unbedingt brauche. Dann könne man ihnen befehlen – und alles sei in Ordnung. ›Wenn also ein komplizierter Fall ist, wird da Herr Studer mit der Untersuchung betraut?‹ – ›Ja!‹ sagte ich, ›das kann ich Ihnen sogar garantieren. Man nimmt dann nur ihn – und der Fahnderhauptmann sowohl als auch der Polizeidirektor stützen dann den Studer, lassen ihn machen, was er will – bis der Fall beendet ist. Dann wird der Studer wieder in die Rumpelkammer getan und darf sich ausruhen…‹ – ›Oh‹, sagte der Farny darauf, ›das ist interessant. So geht es, glaub ich, in allen Ländern zu. Gut; jetzt wollen wir das Testament schreiben.‹ Er erzählte mir, was er schreiben wolle, ich diktierte ihm, er schrieb nach. Dann ließ er das Testament bei mir. Bevor er fortging, sagte er (und dabei hatte er die Türklinke in der Hand), wahrscheinlich werde er ermordet werden. Von einem seiner Verwandten, von einem seiner Bekannten – das sei alles unsicher. Aber er hätte schon zweimal fast das Leben eingebüßt, wenn er nicht gewohnt wäre, auf sich aufzupassen. Ja… Das wollte ich dir noch erzählen…«
»Merci, Hans!« Selten nur nannte der Wachtmeister seinen Freund beim Vornamen – und heute fiel es ihm besonders schwer, denn er erinnerte sich, daß der sezierte Güggel ebenfalls Hans geheißen hatte. Und etwas wie Angst stieg in ihm auf: War nicht schon einer gestorben, der zuviel wußte? Der Gartenbauschüler Äbi? Drohte dem Notar auch Gefahr? »Und los einisch! Paß dann auf, daß dir nichts passiert, Hans! Hast du verstanden?«
»Äh jaa! Mach dir keine Sorgen!«
»Das Testament bestimmt also, daß Farnys Vermögen in vier Teile zerfallen muß. Nid wahr? Zwei Erben sind gestorben, daher erhält der Ludwig, dem es schlecht gegangen ist im Leben, die Hälfte des Vermögens und seine Mutter die andre.«
»Falsch! Du bist müd, Jakob. Du kannst ja nicht rechnen! In drei Teile wird es geteilt: Ludwig Farny, Elisa Äbi und Vinzenz Hungerlott. Der Teil des Hausvaters zerfällt auch: die Hälfte bekommt der Lehrer Wottli…«
»Weiß der Wottli das?«
»Nach dem Brief ist es zu vermuten. Aber es kann auch möglich sein, daß nur Hungerlott um die Sache weiß – und der Wottli nichts. So, jetzt will ich gehn. Schlaf wohl!«
– Ob er den Brief und das Testament behalten dürfe, fragte Studer. Münch nickte. Dann sagte er noch, gewissermaßen als Abschluß seiner nächtlichen Visite: »Weißt, Jakob, ich hätt dich ja nicht besuchen können, heut abend. Denn die ganze Zeit, seit ich gestern angekommen bin, hat mich der Hausvater keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Ich bekam ein Zimmer, das neben dem Schlafzimmer lag und nur eine Tür hatte. Wenn ich fortgehen wollte, mußte ich an Hungerlotts Bett vorbei. Heut abend bin ich umquartiert worden, weil ein neuer Gast erschienen ist – und der Besuch muß sehr wichtig gewesen sein, denn ich bin vergessen worden. Darum hab' ich mich fortschleichen können…!«
Wieder überfiel den Wachtmeister jenes grundlose Angstgefühl. »Hans, paß auf!« sagte er, und der Notar blickte ihn erstaunt an.
»Was soll denn mir passieren?« fragte er erstaunt.
Studer hob die Schultern und brummte etwas. Dann stand er auf und begleitete seinen Freund zur Tür.
»Fall mir nicht die Treppen hinunter, gell?« Münch lachte nur.
Studer lag im Bett (es
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