Der Chinese
ihr anerkennend auf die Schulter geklopft hatte. Als sie jetzt mit geschlossenen Augen im Flugzeug nach Helsinki saß, kam es ihr vor, als wäre alles, was damals geschehen war, eine einzige sich hinziehende Angst gewesen. Während einiger kurzer Augenblicke hatte sie das Gefühl gehabt, an etwas beteiligt zu sein, was die Erdachse vielleicht in eine andere Richtung kippen würde. Aber hauptsächlich hatte sie Angst gehabt.
Sie würde Karin danach fragen. Hatte sie auch Angst gehabt? Einen besseren Ort, um diese Frage zu stellen, als das erträumte Paradies China konnte sie sich nicht vorstellen. Vielleicht würde sie jetzt auch mehr von dem verstehen, was einmal ihr ganzes Dasein geprägt hatte?
Sie erwachte, als die Maschine zum Landeanflug auf den Flugplatz Helsinki ansetzte. Die Räder setzten auf dem Beton auf, und bis zum Start der Maschine nach Peking hatte sie zwei Stunden Zeit. Sie setzte sich auf eine Bank unter ein altes Flugzeug, das unter der Decke der Abflughalle hing. In Helsinki war es kalt. Durch die großen Fenster, die den Blick auf die Landebahnen freigaben, sah sie den dampfenden Atem des Bodenpersonals.
Sie dachte an das letzte Gespräch mit Vivi Sundberg vor einigen Tagen. Birgitta hatte gefragt, ob es Fotos von dem Video aus der Überwachungskamera gab. Das war der Fall, und Vivi Sundberg hatte nicht einmal nach dem Grund gefragt, als sie darum gebeten hatte, eine Kopie vom Bild des Chinesen zu bekommen. Am nächsten Tag hatte eine Vergrößerung in ihrem Briefkasten gelegen. Jetzt war das Bild in ihrer Handtasche. Sie zog es aus dem Umschlag. Unter einer Milliarde Menschen lebst du, dachte Birgitta Roslin. Aber ich werde dich nie finden. Ich werde nie wissen, wer du bist. Ob der Name echt ist. Und vor allem, was du getan hast.
Langsam machte sie sich auf den Weg zum Ausgang für die Maschine nach Peking. Es warteten schon Passagiere, die Hälfte von ihnen Chinesen. Hier beginnt ein Stück von Asien, dachte sie. Die Grenzen verschieben sich auf Flugplätzen, kommen näher und werden zugleich ferner. Sie hatte Platz 22 C. Neben ihr saß ein dunkelhäutiger Mann, der bei einem britischen Unternehmen in der chinesischen Hauptstadt arbeitete. Sie wechselten ein paar freundliche Worte, hatten aber beide nicht das Bedürfnis, das Gespräch zu vertiefen. Sie kauerte sich unter ihrer Wolldecke zusammen und spürte, dass das Reisefieber jetzt dem Gefühl wich, eine Reise anzutreten, ohne sich ordentlich vorbereitet zu haben.
Was wollte sie in Peking eigentlich tun? Durch die Straßen wandern, Menschen betrachten und Museen besuchen? Karin Wiman würde mit Sicherheit nicht viel Zeit für sie haben. Sie dachte, dass etwas von der unsicheren Rebellin noch immer in ihr steckte.
Ich mache diese Reise, um mich selbst zu sehen, dachte sie. Ich bin nicht auf der sinnlosen Suche nach einem Chinesen, der ein rotes Band von einer Lampe abgerissen und später vermutlich neunzehn Menschen ermordet hat. Ich habe angefangen, alle losen Fäden zusammenzuknoten, aus denen das Leben eines Menschen besteht.
Nach ungefähr der Hälfte des sieben Stunden dauernden Fluges begann sie, ihrer Reise voller Erwartungen entgegenzusehen. Sie trank ein paar Glas Wein, aß das Essen, das serviert wurde, und wartete immer ungeduldiger.
Doch ihre Ankunft wurde nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Gerade als sie sich über chinesischem Territorium befanden, teilte der Flugkapitän mit, dass sie aufgrund eines Sandsturms nicht in Peking landen konnten. Sie würden in der Stadt Taiyuan landen und eine Wetterbesserung abwarten. Als die Maschine gelandet war, wurden sie im Bus zu einer ausgekühlten Wartehalle gefahren, in der dick vermummte Chinesen schweigend warteten. Die Zeitverschiebung machte sie müde, und sie war unsicher, welchen ersten Eindruck von China sie eigentlich bekommen hatte. Die Landschaft war verschneit, Hügel umgaben den Flugplatz, auf einer angrenzenden Straße sah sie Busse und Ochsenkarren.
Zwei Stunden später hatte der Sandsturm in Peking nachgelassen. Die Maschine startete und landete wieder. Als Birgitta Roslin alle Kontrollen passiert hatte, erwartete Karin sie am Ausgang.
»Die Ankunft der Rebellin«, sagte sie. »Willkommen in Peking.«
»Danke. Aber ich kann es noch nicht glauben, dass ich wirklich hier bin.«
»Du bist im Reich der Mitte. Mitten in der Welt. Mitten im Leben. Jetzt fahren wir ins Hotel.« Am Abend dieses ersten Tages stand
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