Der Chinese
Geschichte zuweilen hervortreten lässt. Seine Machtausübung hatte viel Leid, Chaos und Verwirrung mit sich gebracht. Aber dass er derjenige war, der, einem modernen Kaiser gleich, das China wieder aufgerichtet hatte, das heute zu einer Weltmacht zu werden im Begriff war, konnte ihm niemand nehmen.
Als sie jetzt vor dem strahlenden Hotel mit seinen Marmorportalen und elegant gekleideten Empfangsdamen stand, die tadelloses Englisch sprachen, war es, als wäre sie in eine Welt versetzt worden, von der sie eigentlich nichts gewusst hatte. War dies wirklich die Gesellschaft, in der der Aufschwung der Bauernbewegung ein großes Ereignis gewesen war? Es sind vierzig Jahre vergangen, dachte sie. Mehr als zwei Generationen. Damals wurde ich von einer Sekte mit Erweckungscharakter angezogen wie die Fliege vom Zucker. Wir wurden nicht aufgefordert, kollektiven Selbstmord zu begehen, weil der Jüngste Tag nahe war, sondern unsere Identität aufzugeben zugunsten eines kollektiven Rausches, wo ein kleines rotes Buch jede andere Aufklärung ersetzt hatte. Darin fanden sich alle Weisheit, die Antworten auf alle Fragen, der Ausdruck aller sozialen und politischen Visionen, deren die Welt bedurfte, um vom gegenwärtigen Stadium den Schritt dahin zu tun, dass sich ein für alle Mal das Paradies auf Erden ansiedelte und nicht in einem fernen Himmel. Aber wir verstanden nicht, dass der Text aus lebendigen Worten bestand. Die Zitate waren nicht in Stein gemeißelt. Sie beschrieben die Wirklichkeit. Wir lasen die Zitate, ohne sie eigentlich zu lesen. Lasen, ohne zu deuten. Als wäre das kleine Rote ein toter Katechismus, eine revolutionäre Liturgie.
Sie warf einen Blick auf die Karte und ging langsam die Straße entlang. Wie oft sie sich in ihrer Vorstellung in dieser Stadt befunden hatte, könnte sie nicht sagen. In ihrer Jugend war sie marschiert, aufgesogen von Millionen anderer, ein anonymes Gesicht in einem Kollektiv, dem keine faschistoiden kapitalistischen Kräfte würden widerstehen können. Jetzt ging sie hier als eine schwedische Richterin, die wegen überhöhten Blutdrucks krankgeschrieben war. War sie endlich so weit gekommen, dass sie nur noch wenige Kilometer entfernt war vom erträumten Mekka ihrer Jugend, dem großen Platz, wo Mao den Massen zugewinkt hatte, aber auch einigen Studenten, die auf dem Fußboden einer Wohnung in Lund saßen und an einer ernsten Massenversammlung teilnahmen?
Auch wenn sie an diesem Morgen verwirrt war angesichts des Bildes, das nicht mit ihren Erwartungen übereinstimmte, war sie dennoch die Pilgerin, die am Ziel, von dem sie geträumt hatte, angelangt war. Die Kälte war trocken und beißend, sie duckte sich gegen die Windböen, die ihr entgegenkamen und Sand ins Gesicht trieben. Sie hatte die Karte in der Hand, wusste jedoch, dass sie nur die große Straße geradeaus gehen musste, um an ihr Ziel zu kommen.
Sie hatte an diesem Morgen noch eine weitere Erinnerung im Kopf. Ihr Vater war einmal während seines Seemannslebens, bevor er in den Brechern der Gävlebucht verschwunden war, in China gewesen. Sie erinnerte sich an eine kleine geschnitzte Buddhafigur, die er mitgebracht und ihrer Mutter geschenkt hatte. Jetzt stand sie auf einem Tisch bei David, der darum gebeten hatte. Während seines Studiums hatte er mit dem Buddhismus als Ausweg aus einer Krise geliebäugelt, als ihn ein jugendliches Gefühl von Sinnlosigkeit überkam. Mehr hatte sie David über seine religiösen Empfindungen nie sagen hören, aber die Holzfigur hatte er behalten. Wer ihr eigentlich erzählt hatte, dass die Figur von ihrem Vater aus China mitgebracht worden war, wusste sie nicht mehr. Vielleicht hatte ihre Tante ihr davon erzählt, als sie noch sehr klein war.
Als sie jetzt auf der Straße ging, kam der Vater ihr plötzlich ganz nah, obwohl er kaum Peking besucht hatte, sondern eine der großen Hafenstädte, als er sich an Bord eines Schiffes befunden hatte, das nicht nur Ostseefahrt betrieb.
Wir sind wie ein kleiner Zug von Lemmingen, dachte sie. Mein Vater und ich, an diesem eiskalten Morgen in einem grauen und fremden Peking.
VIERTER TEIL
Die Kolonisatoren
Von Elefanten abgeschälte Rinde
(2006)
Verlasst euch im Kampf für die vollständige Befreiung der unterdrückten Völker in erster Linie auf deren eigenen Kampf und danach, und nur danach, auf internationale Unterstützung.
Das Volk, das in seiner eigenen Revolution gesiegt hat, soll denen helfen, die noch um
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