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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Leere. Es war, als wäre sie aus einem stechenden Dickicht in eine kalte und nachtschwarze Wüste gewandert.
     
    Ende der 1980er Jahre hatten Staffan und sie eine Afrikareise gemacht und unter anderem die Victoriafälle an der Grenze zwischen Sambia und Zimbabwe besucht. Sie hatten Freunde gehabt, die bei der Entwicklungshilfe im sambischen Kupfergürtel arbeiteten, und sie hatten einen Teil der Reise auf einer Art Safari verbracht.
     
    Beim Besuch am Sambesifluss hatte Staffan plötzlich vorgeschlagen, eine Fahrt auf den Stromschnellen unterhalb des Victoriafalles zu machen. Sie hatte zugestimmt, war aber blass geworden, als sie sich am nächsten Morgen am Ufer versammelten, um Informationen zu bekommen, die Führer der Gummiflöße kennenzulernen und ein Papier zu unterschreiben, dass sie die Fahrt auf eigenes Risiko unternahmen. Nach der ersten Stromschnelle, die als eine der leichtesten und am wenigsten anstrengenden galt, erkannte Birgitta Roslin, dass sie noch nie in ihrem Leben so große Angst gehabt hatte. Sie glaubte, dass sie in einer der vor ihnen liegenden Stromschnellen kentern würden, dass sie unter dem 346 kieloben treibenden Floß begraben und ganz sicher ertrinken würde. Staffan hatte sich an der Seilreling des Gummiboots festgehalten und ein unergründliches Lächeln auf den Lippen gehabt.
     
    Hinterher, als alles vorbei war und sie vor Erleichterung beinahe ohnmächtig geworden wäre, hatte er behauptet, keine besonders große Angst gehabt zu haben. Sie wusste - was in ihrer Ehe noch nicht oft vorgekommen war -, dass er ihr nicht die Wahrheit sagte. Aber sie hatte nicht mit ihm argumentiert, glücklich darüber, der Gefahr des Kenterns in einer der sieben Stromschnellen entronnen zu sein. Als sie jetzt vor dem Hotel stand, dachte sie, dass sie sich in jenem Frühjahr 1968 ähnlich gefühlt hatte wie auf der Stromschnellenfahrt. Sie war mit Karin in die Rebellenbewegung geraten, die in vollem Ernst der Ansicht war, die schwedischen »Massen« würden sich bald erheben und der bewaffnete Kampf gegen die Kapitalisten und die sozialdemokratischen Klassenverräter stünde unmittelbar bevor. Sie stand vor dem Hotel und sah die Stadt sich ausbreiten. Polizisten in blauen Uniformen arbeiteten paarweise zusammen, um den dichten Verkehr in Fluss zu halten. Eine der absurdesten Erinnerungen an jenen rebellischen Frühling kam ihr in den Sinn. Sie waren zu viert gewesen und hatten in einer Frage, an die sie sich nicht mehr erinnerte, den Vorschlag für eine Resolution ausgearbeitet. Vielleicht stand der Inhalt im Zusammenhang mit dem Versuch, die FNLBewegung zu zerschlagen, die in jenen Jahren in Schweden eine anwachsende Volksbewegung gegen den Krieg der USA im fernen Vietnam war. Als die Resolution fertig war, wurde sie mit den Worten eingeleitet: »Bei einer Massenversammlung in Lund wurde beschlossen ...«
     
    Massenversammlung? Mit vier Personen? Wenn es sich bei der Wirklichkeit hinter dem ›gegenwärtigen Aufschwung der Bauernbewegung‹ um Hunderte von Millionen Menschen handelte, wie konnten drei Studenten aus Lund glauben, eine Massenversammlung darzustellen?
     
    Karin Wiman war damals dabei gewesen. Während Birgitta bei der Arbeit an der Resolution kein Wort von sich gegeben, sondern verschreckt in einer Ecke gesessen und gewünscht hatte, sie wäre unsichtbar, hatte Karin dann und wann erklärt, sie sei mit den Übrigen einig, weil sie eine ›korrekte Analyse‹ vorgenommen hatten.
     
    In dieser Zeit, als die schwedischen Volksmassen bald auf die Plätze strömen und die Worte des großen chinesischen Führers skandieren sollten, waren in Birgittas Vorstellungswelt alle Chinesen in bauschige graublaue Uniformen gekleidet, hatten den gleichen Typ Mütze getragen, hatten das gleiche kurzgeschnittene Haar und ernste, in Falten gelegte Stirnen. Dann und wann, wenn sie ein Exemplar der Bildzeitschrift China bekam, hatte sie sich gewundert über die gleichbleibend rosigen Menschen, die mit blühenden Wangen und leuchtenden Augen die Arme zu dem Gott erhoben, der vom Himmel gestiegen war, dem Großen Steuermann, dem Ewigen Lehrer und wie er sonst noch genannt wurde, der rätselhafte Mao. Aber so schrecklich rätselhaft war er gar nicht gewesen. Das hatten spätere Zeiten erwiesen. Er war ein Politiker, der eine große Sensibilität dafür entwickelt hatte, was in dem gigantischen chinesischen Reich geschah. Bis zur Selbständigkeit 1949 war er einer der einzigartigen Führer gewesen, die die

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