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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Birgitta Roslin in der neunten Etage des Hotels, in dem sie mit Karin das Zimmer teilte. Sie sah über die glitzernde Riesenstadt und spürte ein Kribbeln der Erwartung.
     
    In einem anderen Hochhaus stand zur gleichen Zeit ein Mann und betrachtete die gleiche Stadt und das gleiche Licht wie Birgitta Roslin.
     
    In der Hand hielt er ein rotes Band. Als ein gedämpftes Klopfen von der Tür zu hören war, wandte er sich langsam um und nahm den Besuch in Empfang, auf den er ungeduldig gewartet hatte.
     
    Das chinesische Spiel
    Am ersten Morgen in Peking ging Birgitta Roslin früh hinaus. Sie hatte gemeinsam mit Karin Wiman in dem riesigen Speisesaal gefrühstückt, bevor Karin zu ihrer Konferenz geeilt war.
     
    Karin freute sich, wie sie gesagt hatte, auf all die klugen Worte, die über die alten Kaiser geäußert wurden, für die sich kaum noch Menschen interessierten.
     
    Für Karin Wiman war die Geschichte in mancher Hinsicht lebendiger als die Gegenwart. »Als ich noch jung war und Rebellin, in jenen schrecklichen Monaten im Frühjahr und Sommer 1968, lebte ich in einer Illusion, fast so, als wäre ich eingeschlossen in einer religiösen Sekte. Dann floh ich in die Geschichte, die mir nicht weh tun konnte. Bald bin ich vielleicht bereit, in der gleichen Wirklichkeit zu leben wie du.« Birgitta Roslin vermochte nicht sogleich zu unterscheiden, was in Karins Worten Ironie und was Wahrheit war. Als sie sich dick vermummt hatte, um sich in die bittere trockene Kälte hinauszuwagen, nahm sie Karin Wimans Worte mit auf den Weg. Vielleicht galten sie auch für sie selbst? Von einer sehr schönen jungen Dame an der Rezeption, die ein fast fließendes Englisch sprach, hatte sie einen Stadtplan bekommen. Ein Zitat tauchte in ihrem Kopf auf. Der gegenwärtige Aufschwung der Bauernbewegung ist ein gewaltiges Ereignis. Es war ein Mao-Zitat, das in den heftigen Debatten, die in jenem Frühjahr 1968 geführt wurden, ständig wiederkehrte. Die ultralinke Bewegung, in die Karin und sie selbst hineingezogen worden waren, vertrat die Auffassung, dass Maos Gedanken oder Ansprüche, die in seinem kleinen roten Buch gesammelt waren, die einzig wahren Argumente darstellten. Ob man nun die Frage behandelte, was man zu Abend essen sollte, oder ob es darum ging, wie man die schwedische Arbeiterklasse dazu bringen konnte zu verstehen, dass sie von den Kapitalisten und ihren Mitverschworenen, den Sozialdemokraten, bestochen wurde, und ihre historische Aufgabe zu erkennen, sich zu bewaffnen. Sie erinnerte sich sogar an den Namen des Predigers, Gottfred Appel, »der Apfel«, wie sie ihn respektlos nannte, allerdings nur gegenüber engen Vertrauten wie Karin Wiman. Der gegenwärtige Aufschwung der Bauernbewegung ist ein gewaltiges Ereignis. Die Worte hallten in ihrem Gehirn wider, als sie aus dem Hotel trat, dessen Eingang von grüngekleideten sehr jungen Männern bewacht wurde.
     
    Die Straße vor ihr war breit und hatte viele Fahrbahnen. Überall Autos, fast keine Fahrräder. An der Straße lagen große Bankkomplexe, und sie sah auch eine Buchhandlung mit fünf Etagen. Vor dem Geschäft standen Menschen mit großen Plastiksäcken voller Wasserflaschen.
     
    Birgitta Roslin war noch nicht weit gekommen, als sie die Luftverschmutzung im Hals und in der Nase und den Geschmack von Metall im Mund spürte. Wo noch keine Hochhäuser standen, schwenkten Baukräne ihre Ausleger. Sie bewegte sich in einer Stadt, die in hektischer Verwandlung begriffen war.
     
    Ein Mann, der einen überladenen Karren mit leeren Hühnerkäfigen zog, schien in die total falsche Zeit geraten zu sein. Ansonsten hätte sie sich irgendwo auf der Welt befinden können.
     
    Als ich jung war, sah ich vor meinem inneren Auge Bilder eines unendlichen Gewimmels von Chinesen mit Hacken und Spaten, von roten Fahnen und skandierenden Sprechchören umgeben, die hohe Berge in fruchtbares Ackerland verwandelten. Das Gewimmel existiert noch. Aber zumindest in Peking, auf der Straße, auf der ich gerade stehe, tragen die Menschen keine wattierte Kleidung mehr und halten keine Hacken und Spaten mehr in den Händen. Sie fahren auch nicht mehr Rad, sie haben Autos, und viele Frauen tragen elegante hochhackige Schuhe.
     
    Was hatte sie erwartet? Es waren fast vierzig Jahre vergangen seit dem Frühling und Sommer 1968, seit der Angst, ja, dem Grauen davor, nicht rechtgläubig genug zu sein, und im August kam die große Auflösung, die nachfolgende Erleichterung - und danach die große

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