Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Außentreppe hinaufgingen, schulterten die beiden Polizisten ihre Gewehre. Hong Qiu schien nicht zu reagieren. Birgitta Roslin fragte sich wieder, wer ihre Begleiterin eigentlich war. Sie war kaum eine gewöhnliche Botin, die hinzueilte, um ausländischen Besuchern gestohlene Taschen zurückzubringen.
     
    Sie gingen weiter durch einen kahlen Korridor und gelangten in den eigentlichen Gerichtssaal, einen kalten Raum mit brauner Holztäfelung. An einem hohen Podium an der einen Schmalseite saßen zwei uniformierte Männer. Der Platz zwischen ihnen war frei. Zuhörer waren nicht im Saal. Hong Qiu ging zu der vorderen Zuhörerbank. Dort lagen zwei Kissen. Alles ist vorbereitet, dachte Birgitta Roslin. Die Vorstellung kann beginnen. Oder ist es wirklich weiter nichts, als dass mir auch in diesem Gerichtssaal Fürsorge zuteil wird? Sie hatten sich kaum gesetzt, als der Angeklagte zwischen zwei Wachen hereingeführt wurde. Ein Mann mittleren Alters mit kurzgeschnittenem Haar in einem dunkelblauen Gefangenenanzug. Er hatte den Kopf zum Boden gesenkt. Neben ihm ging ein Verteidiger. Ein Mann, den Birgitta Roslin für den Staatsanwalt hielt, stellte sich an einen anderen Tisch. Er trug Zivilkleidung und war älter, mit zerfurchtem Gesicht. Aus einer Tür hinter dem Podium trat die Richterin in den Saal. Sie war an die sechzig, klein und korpulent. Als sie sich gesetzt hatte, wirkte sie hinter dem Tisch beinahe wie ein Kind.
     
    »Shu Fu war der Anführer einer kriminellen Gruppe, die sich auf Autodiebstähle spezialisiert hatte«, sagte Hong Qiu leise. »Die anderen sind schon verurteilt. Jetzt ist der Bandenchef an der Reihe. Weil er ein rückfälliger Verbrecher ist, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine strenge Strafe bekommen. Zuvor ist er milde behandelt worden. Weil er das Vertrauen missbraucht hat, muss das Gericht ihn jetzt härter bestrafen.«
     
    »Aber nicht mit der Todesstrafe?«
     
    »Natürlich nicht.«
     
    Birgitta Roslin hatte das Empfinden, dass Hong Qiu ihre letzte Frage nicht gefallen hatte. Ihre Antwort klang ungeduldig, fast abweisend. Da hat das Lächeln einen Sprung bekommen, dachte sie. Die Frage ist nur, ob ich eine wirkliche Gerichtsverhandlung vor mir sehe oder ob es sich um ein inszeniertes Schauspiel handelt, bei dem das Urteil schon verkündet ist.
     
    Die Stimmen klangen schrill und hallten im Saal wider. Der Einzige, der nie etwas sagte, war der Angeklagte, der unverwandt auf den Boden starrte. Hong Qiu übersetzte dann und wann, was gesagt wurde. Der Verteidiger zeigte keine größeren Anstrengungen, seinen Klienten zu stützen, was auch in schwedischen Gerichtssälen nicht ungewöhnlich war, dachte Birgitta Roslin. Das Ganze entwickelte sich zu einem Gespräch zwischen Staatsanwalt und Richterin. Welche Funktion die beiden Beisitzer auf dem Podium hatten, konnte Birgitta Roslin nicht erkennen.
     
    Die Verhandlung war in weniger als einer halben Stunde vorüber. »Er wird ungefähr zehn Jahre Strafarbeit bekommen«, sagte Hong Qiu.
     
    »Ich habe nicht gehört, dass die Richterin etwas gesagt hat, was wie ein Urteil klang.«
     
    Hong Qiu erwiderte darauf nichts. Als die Richterin aufstand, standen alle auf. Der Verurteilte wurde abgeführt. Birgitta Roslin konnte keinen Blick des Mannes auffangen. »Jetzt treffen wir die Richterin«, sagte Hong Qiu. »Sie lädt uns in ihrem Arbeitszimmer zum Tee ein. Ihr Name ist Min Ta. Wenn sie nicht arbeitet, verbringt sie ihre Zeit mit zwei Enkelkindern.«
     
    »Welchen Ruf hat sie?«
     
    Hong Qiu verstand die Frage nicht.
     
    »Alle Richter haben einen Ruf, dessen Wahrheitsgehalt mehr oder weniger hoch sein kann. Aber selten ist dieser Ruf ganz falsch. Ich gelte als eine milde, aber sehr bestimmte Richterin.«
     
    »Min Ta folgt dem Gesetz. Sie ist stolz darauf, Richterin zu sein. Damit ist sie auch eine wahre Repräsentantin unseres Landes.«
     
    Sie gingen durch die niedrige Tür hinter dem Podium und wurden von Min Ta in ihrem spartanischen und ausgekühlten Zimmer empfangen. Ein Gerichtsdiener servierte Tee. Sie setzten sich.
     
    Min Ta begann sofort, mit der gleichen schrillen Stimme wie im Gerichtssaal zu sprechen.
     
    Hong Qiu übersetzte, als Min Ta geendet hatte. »Es ist ihr eine große Ehre, eine Kollegin aus Schweden zu treffen. Sie hat viel Gutes über das schwedische Rechtssystem gehört. Leider hat sie eine neue Gerichtsverhandlung, die gleich beginnt. Sonst würde sie gern ein längeres Gespräch über das schwedische

Weitere Kostenlose Bücher