Der Chinese
natürlich nicht mehr haben. Sie zweifelte daran, dass es sich so verhielt.
Trotz des kalten Windes waren zahlreiche Besucher unterwegs. Es waren vor allem Chinesen, die sich andächtig durch die Räume bewegten, zu denen ihre Vorväter über Generationen hinweg keinen Zugang gehabt hatten. Diese gewaltige Revolte, dachte Birgitta Roslin. Wenn ein Volk sich befreit, bedeutet es, dass es das Recht bekommt, eigene Träume zu träumen, Zugang zu den verbotenen Räumen zu bekommen, in denen die Unterdrückung geschaffen wurde.
Jeder fünfte Mensch auf der Erde ist Chinese. Wenn meine Familie versammelt ist und wenn wir die Welt wären, wäre einer von uns Chinese. Darin hatten wir trotz allem recht, als wir jung waren, dachte sie. Unsere einheimischen Propheten, besonders Moses, der theoretisch am besten geschult war, erinnerten uns ständig daran, dass eine Zukunft nicht diskutiert werden konnte, ohne dass China am Gespräch beteiligt war.
Gerade als sie die Verbotene Stadt verlassen wollte, entdeckte sie zu ihrer Verwunderung ein Cafe einer amerikanischen Kette. Das Schild schrie ihr von einer roten Ziegelwand entgegen. Sie versuchte zu beobachten, wie die vorübergehenden Chinesen reagierten. Hin und wieder blieb einer stehen und zeigte darauf, andere gingen sogar hinein, doch die meisten schienen sich aus dem, was Birgitta Roslin als eine abscheuliche Tempelschändung betrachtete, nichts zu machen. China war zu einer anderen Art von Rätsel geworden, seit sie zum ersten Mal versucht hatte, etwas vom Reich der Mitte zu verstehen. Aber das ist nicht ganz richtig, dachte sie. Auch ein amerikanisches Cafe in der Verbotenen Stadt muss man verstehen können, wenn man eine sachliche Analyse der Welt, wie sie ist, zugrunde legt.
Auf dem Rückweg zum Hotel verstieß sie gegen den Vorsatz, den sie am Morgen gefasst hatte, und sah sich um. Aber niemand war da, den sie erkannte oder der überrascht zu sein schien, weil sie sich umdrehte. Sie aß in einem kleinen Restaurant zu Mittag und war wiederum über die Höhe der Rechnung erstaunt. Dann beschloss sie, in ihrem Hotel eine englische Tageszeitung aufzutreiben und in der großen Bar neben der Rezeption einen Kaffee zu trinken. Am Zeitungsstand fand sie ein Exemplar von The Guardian, setzte sich in eine Ecke am offenen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Ein paar amerikanische Touristen verkündeten der Umgebung lauthals, dass sie jetzt die Chinesische Mauer besteigen wollten. Sie fand sie sogleich unsympathisch.
Wann würde sie selbst die Mauer besuchen? Karin Wiman hatte vielleicht am letzten Tag vor ihrer Heimreise Zeit. Konnte man China besuchen, ohne die Mauer zu sehen, die einer modernen Legende zufolge eines der wenigen Bauwerke sein soll, die aus dem Weltraum sichtbar waren? Die Mauer muss ich erleben, dachte sie. Karin ist bestimmt früher schon da gewesen. Aber sie muss sich opfern. Außerdem hat sie einen Fotoapparat. Wir können ja schlecht von hier abreisen, ohne ein Bild von uns und der Mauer zu haben, das wir unseren Kindern zeigen können.
Eine Frau blieb plötzlich an ihrem Tisch stehen. Sie war in ihrem Alter und hatte straff zurückgekämmtes Haar. Sie lächelte und strahlte große Würde aus. Sie sprach Birgitta Roslin in ausgezeichnetem Englisch an. »Frau Roslin?«
»Das bin ich.«
»Darf ich mich setzen? Ich habe ein wichtiges Anliegen.«
»Bitte sehr.«
Die Frau trug ein dunkelblaues Kostüm, das sehr teuer gewesen sein musste.
Sie setzte sich. »Mein Name ist Hong Qiu«, sagte sie. »Ich würde Sie nicht belästigen, wenn ich nicht wirklich ein besonderes Anliegen hätte.«
Sie gab einem Mann, der im Hintergrund wartete, ein diskretes Zeichen. Er trat an den Tisch, legte Birgitta Roslins Handtasche ab, als wäre es ein kostbares Geschenk, und entfernte sich.
Birgitta Roslin sah Hong fragend an.
»Die Polizei hat Ihre Tasche gefunden«, sagte Hong. »Da es demütigend für uns ist, dass einer unserer Gäste Opfer eines Unglücks wird, hat man mich gebeten, sie zu überreichen.«
»Sind Sie von der Polizei?«
Hong lächelte weiter. »Nein, nein. Aber manchmal werde ich gebeten, unseren Behörden gewisse Dienste zu erweisen. Fehlt etwas?«
Birgitta Roslin öffnete die Tasche. Alles außer dem Geld war noch da. Zu ihrer Verwunderung entdeckte sie auch die Streichholzschachtel, nach der sie gesucht hatte.
»Das Geld ist weg.«
»Wir hoffen, die Verbrecher zu ergreifen.
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