Der Chinese
das Foto heraus und zeigte es Hong. Hong Qiu nickte langsam. Einen kurzen Augenblick verlor sie sich in eigenen Gedanken. Birgitta Roslin hatte auf einmal das Gefühl, dass Hong Qiu das Gesicht kannte. Aber das war natürlich unsinnig. Ein Gesicht unter einer Mil liarde anderer?
Hong Qiu lächelte, reichte das Foto zurück und fragte, welche Pläne Birgitta Roslin für den Rest ihres Aufenthalts in Peking noch habe.
»Ich hoffe, morgen nimmt meine Freundin mich mit zur Chinesischen Mauer. Übermorgen fliegen wir nach Hause.«
»Ich bin morgen leider beschäftigt und kann Ihnen nicht helfen.«
»Sie haben schon mehr für mich getan, als ich hoffen konnte.«
»Auf jeden Fall werde ich mich vor Ihrer Abreise von Ihnen verabschieden.« Sie trennten sich vor dem Hotel. Birgitta sah dem Wagen nach, der mit Hong Qiu davonfuhr.
Um drei Uhr kam Karin und warf mit einem Seufzer der Erleichterung einen großen Teil des Kongressmaterials, das jetzt ausgedient hatte, in den Papierkorb. Als Birgitta für den nächsten Tag einen Ausflug zur Chinesischen Mauer vorschlug, war Karin sofort einverstanden. Aber jetzt wollte sie Geschäfte besuchen. Birgitta begleitete sie, von einem Kaufhaus ins nächste, zu halboffiziellen Märkten in kleinen Gassen und finsteren Läden, in denen man von alten Lampen bis zu Holzskulpturen, die bösartige Dämonen darstellten, alles finden konnte. Mit Paketen und Tüten beladen, winkten sie ein Taxi heran, als die Dämmerung hereinbrach. Da Karin müde war, aßen sie im Hotel. Birgitta buchte an der Rezeption einen Ausflug an die Mauer für den folgenden Tag. Karin schlief, während Birgitta in einem Sessel kauerte und bei leise gestelltem Ton chinesisches Fernsehen sah. Dann und wann verspürte sie einen Anflug von Angst wegen des Zwischenfalls vor zwei Tagen. Aber sie hatte inzwischen beschlossen, niemandem davon zu erzählen, nicht einmal Karin.
Am nächsten Tag fuhren sie zur Mauer hinaus. Es war windstill, die trockene Kälte fühlte sich weniger aggressiv an. Sie gingen auf der Mauer umher, staunten und machten Bilder voneinander oder gaben einem freundlichen Chinesen die Kamera in die Hand, der ihnen gern den Gefallen tat, ein Foto von ihnen zu machen.
»Wir sind hierhergekommen«, sagte Karin. »Mit der Kamera in der Hand, nicht mit Maos rotem Buch.«
»In diesem Land muss ein Wunder geschehen sein«, sagte Birgitta. »Nicht von Göttern geschaffen, sondern von Menschen und durch unerhörte Anstrengung.«
»Auf jeden Fall in den Städten. Aber auf dem Land soll die Armut entsetzlich sein. Was tut man, wenn Hunderte von Millionen armer Bauern sich auflehnen?«
»Der gegenwärtige Aufschwung der Bauernbewegung ist ein gewaltiges Ereignis. Vielleicht wohnt diesem Mantra doch eine ungeahnte Wirklichkeit inne?«
»Niemand hat uns damals gesagt, dass es in China so kalt sein kann. Jetzt habe ich mich bald tot gefroren.« Sie kehrten zu dem wartenden Wagen zurück. Als Birgitta die Treppe von der Mauer hinunterging, warf sie, vielleicht um die Mauer noch ein letztes Mal zu sehen, einen Blick zurück. Da sah sie einen der Männer Hong Qius, der dastand und in einem Führer las. Es bestand kein Zweifel. Es war der Mann, der mit ihrer Handtasche an ihren Tisch getreten war. Karin winkte ungeduldig aus dem Wagen. Sie fror, wollte los. Als Birgitta sich noch einmal umwandte, war der Mann verschwunden.
Am letzten Abend in Peking blieben Birgitta Roslin und Karin Wiman im Hotel. Sie hatten in der Bar gesessen und Wodkacocktails getrunken, um sich nach dem Ausflug zur Mauer wieder aufzuwärmen und dabei verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie sie ihre Reise abschließen wollten. Aber der Wodka hatte sie so schläfrig und schlapp gemacht, dass sie beschlossen hatten, im Hotel zu essen. Anschließend hatten sie noch lange am Tisch gesessen und darüber gesprochen, wie ihr Leben sich gestaltet hatte. Es war, als würde es eingerahmt von den aufrührerischen Träumen ihrer Jugend von einem roten China und dem Land, das sie jetzt erlebten, ein Land, in dem große Veränderungen stattgefunden hatten, wenn auch vielleicht nicht so, wie sie es sich einst vorgestellt hatten. Sie blieben im Restaurant sitzen, bis sie die Letzten waren. Von der Lampe über dem Tisch hingen blaue Seidenbänder herab.
Birgitta beugte sich über den Tisch vor und zischte, dass sie zwei blaue Bänder als Andenken mitnehmen sollten. Mit einer kleinen Nagelschere schnitt Karin
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