Der Chinese
zwei der Bänder ab, als keine der Bedienungen in ihre Richtung sah.
Nachdem sie ihren Koffer gepackt hatte, schlief Karin ein. Der Kongress hatte sie angestrengt. Birgitta saß auf dem Sofa des nur noch schwach erleuchteten Zimmers. Ein Gefühl des Alterns war über sie gekommen. Bis hierhin, und noch ein Stück, dann würde der Pfad plötzlich an etwas Unbekanntem enden, und ein großes Dunkel würde sie umfangen. Vielleicht spürte sie schon jetzt, wie der Pfad sich langsam, fast unmerklich abwärtszuneigen begann. Denk dir zehn Dinge aus, die du noch tun möchtest, flüsterte sie sich selbst zu. Zehn Dinge, die du noch vor dir hast. Sie setzte sich an den kleinen Schreibtisch und begann, in einen Notizblock zu schreiben.
Was wollte sie unbedingt noch erleben? Natürlich hoffte sie, ein Enkelkind oder mehrere zu bekommen. Staffan und sie hatten häufig davon gesprochen, verschiedene Inseln zu besuchen. Bisher hatten sie nur Island und Kreta geschafft. Eine ihrer Traumreisen ging auf die Galapagos-Inseln, eine andere nach Pitcairn Island, wo das Blut der Meuterer auf der Bounty noch in den Adern der Einwohner floss. Noch eine Sprache lernen? Oder zumindest versuchen, das Französisch aufzufrischen, das sie einmal ziemlich gut beherrscht hatte? Am wichtigsten war trotz allem, dass Staffan und sie ihre Beziehung wieder zum Leben erweckten und begannen, einander wieder wahrzunehmen. Eine große Trauer konnte sie überkommen bei dem Gedanken, dass sie auf das Alter zugingen, ohne dass noch etwas von der alten Leidenschaft lebendig war.
Keine Reise war wichtiger.
Sie knüllte das Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. Warum sollte sie aufschreiben, was schon klar und deutlich an ihren inneren Kirchentüren angeschlagen war? Einige unerbittliche Thesen über Birgitta Roslins Zukunft. Sie zog sich aus und kroch ins Bett. Karin atmete ruhig neben ihr. Plötzlich fühlte sie, dass es Zeit war, nach Hause zu fahren, gesundgeschrieben zu werden und wieder zu arbeiten. Ohne die alltägliche Routine würde sie keinen ihrer Träume verwirklichen können.
Sie zögerte kurz, nahm dann aber das Handy und schickte eine SMS an ihren Mann. »Auf dem Heimweg. Jede Reise beginnt mit einem einfachen Schritt. So auch der Heimweg.« Als sie erwachte, war es sieben Uhr. Obwohl sie nicht mehr als fünf Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich hellwach. Ein leichter Kopfschmerz rief ihr die vielen Wodkacocktails vom Abend in Erinnerung. Karin schlief, in die Laken gedreht, eine Hand hing auf den Fußboden. Behutsam schob sie die Hand unter das Laken.
Trotz der frühen Uhrzeit waren schon viele Gäste im Frühstücksraum. Sie blickte sich um, um zu sehen, ob sie irgendwo ein bekanntes Gesicht entdecken konnte. Dass der Mann bei der Mauer einer von denen war, die sich in Hongs Gesellschaft befanden, bezweifelte sie nicht. Vielleicht war es einfach nur so, dass der chinesische Staat sie unter Bewachung stellte, damit nicht noch ein unpassender Zwischenfall eintraf?
Sie frühstückte, blätterte in einer englischen Zeitung und wollte gerade wieder auf ihr Zimmer gehen, als Hong plötzlich an ihrem Tisch stand. Sie war nicht allein, neben ihr standen zwei Männer, die Birgitta noch nicht gesehen hatte. Hong nickte den Männern zu, die sich zurückzogen, und setzte sich.
Sie sagte einige Worte zu einem der Frühstückskellner und bekam unmittelbar ein Glas Wasser. »Ich hoffe, es ist alles in Ordnung«, sagte Hong. »Wie war der Ausflug zur Mauer?« Das weißt du doch längst, dachte Birgitta. Außerdem bin ich sicher, dass gestern einige deiner Extraaugen im Hotelrestaurant Lotusblüte zugegen waren, als Karin und ich zu Abend gegessen haben.
»Die Mauer war beeindruckend. Aber es war kalt.« Birgitta Roslin sah Hong herausfordernd direkt in die Augen, sie wollte herausfinden, ob Hong verstand, dass sie die von ihr ausgesandten Späher entdeckt hatte. Aber an Hongs Gesicht war nichts abzulesen. Sie ließ sich nicht in die Karten schauen.
»In einem Raum neben dem Restaurant wartet ein Mann auf Sie«, sagte Hong. »Sein Name ist Chan Bing.«
»Was will er?«
»Berichten, dass die Polizei einen Mann gefasst hat, der an dem Überfall beteiligt war, bei dem Ihre Tasche gestohlen wurde.«
Birgitta Roslin fühlte ihr Herz schneller schlagen. In dem, was Hong sagte, schwang etwas Unheilverkündendes mit. »Warum kommt er nicht her, wenn er mit mir sprechen will?«
»Er trägt
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