Der Chinese
Rechtssystem führen.«
»Danken Sie ihr dafür, dass sie mich empfangen hat«, sagte Birgitta Roslin. »Fragen Sie sie, wie das Urteil ihrer Meinung nach ausfallen wird. Haben Sie recht mit zehn Jahren, wie Sie vermuten?«
»Ich gehe nie in einen Gerichtssaal, ohne gut vorbereitet zu sein«, antwortete Min Ta, als die Frage übersetzt worden war. »Es ist meine Pflicht, meine und die Zeit der übrigen Gerichtsdiener gut zu nutzen. Hier gab es keine Zweifel. Der Mann hatte gestanden. Er ist ein rückfälliger Verbrecher, es gab keine mildernden Umstände. Ich glaube, ich werde ihm zwischen sieben und zehn Jahren Gefängnis geben, aber ich werde das Urteil sorgfältig abwägen.«
Das war die einzige Frage, die Birgitta Roslin stellen konnte. Dann ließ Min Ta eine ganze Serie von Fragen vom Stapel, die Birgitta ihrerseits beantworten sollte. Sie fragte sich zwischendurch, was Hong Qiu eigentlich in ihren Übersetzungen sagte. Vielleicht führten sie und Min Ta ein Gespräch über etwas ganz anderes?
Nach zwanzig Minuten stand Min Ta auf und erklärte, sie müsse in den Gerichtssaal zurück. Ein Mann mit einer Kamera betrat den Raum. Min Ta stellte sich neben Birgitta Roslin, und ein Bild wurde aufgenommen. Hong Qiu stand daneben, außerhalb des Sichtfelds der Kamera. Min Ta und Birgitta Roslin schüttelten sich die Hand und gingen dann gemeinsam hinaus auf den Korridor. Als Min Ta die Tür zum Podium öffnete, konnte Birgitta Roslin sehen, dass der Saal jetzt voller Zuhörer war.
Sie kehrten zum Wagen zurück, der mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr. Als der Wagen wieder hielt, waren sie nicht beim Hotel, sondern bei einem pagodenähnlichen Teehaus, das auf einer Insel in einem künstlichen See lag.
»Es ist kalt«, sagte Hong Qiu. »Tee wärmt.«
Hong Qiu führte sie zu einem Raum, der vom übrigen Teehaus abgeschirmt war. Es standen zwei Teetassen bereit, und eine Serviererin wartete mit der Teekanne in der Hand. Alles, was geschah, war minutiös vorbereitet. Von einer gewöhnlichen Touristin hatte Birgitta sich in eine überaus wichtige Besucherin des Landes verwandelt. Doch sie wusste noch immer nicht, warum.
Hong Qiu begann unvermittelt, vom schwedischen Rechtssystem zu sprechen. Sie schien sehr belesen zu sein und stellte Fragen nach den Morden an Olof Palme und Anna Lindh. »In offenen Gesellschaftsformen kann man sich noch schwerer für die Sicherheit eines Menschen verbürgen«, sagte Birgitta Roslin. »In allen Gesellschaften bezahlt man einen Preis. Freiheit und Sicherheit kämpfen ständig um ihre Positionen.«
»Wenn man einen Menschen wirklich töten will, ist es nicht zu verhindern«, sagte Hong Qiu. »Nicht einmal ein amerikanischer Präsident kann geschützt werden.«
Birgitta Roslin ahnte einen Unterton in dem, was Hong Qiu sagte, vermochte ihn aber nicht zu deuten.
»Wir lesen nicht oft etwas über Schweden«, fuhr Hong Qiu fort. »Aber in der letzten Zeit waren in unseren Zeitungen Meldungen über einen schrecklichen Massenmord in Schweden zu finden.«
»Ja, davon weiß ich einiges«, sagte Birgitta Roslin. »Auch wenn ich nicht als Richterin damit zu tun habe. Ein Verdächtiger wurde gefasst. Aber er hat Selbstmord begangen. Was allein schon ein Skandal ist, denn wie konnte er die Möglichkeit dazu haben.«
Da Hong Qiu höflich interessiert wirkte, erzählte Birgitta Roslin so ausführlich, wie sie es konnte, von den Ereignissen. Hong Qiu hörte aufmerksam zu, stellte keine Fragen, bat sie aber mehrmals, etwas zu wiederholen.
»Ein Wahnsinniger«, sagte Birgitta schließlich. »Dem es gelang, sich das Leben zu nehmen. Oder ein anderer Wahnsinniger, den die Polizei noch nicht hat fassen können. Oder etwas ganz anderes, mit einem Motiv und einem kaltblütigen und brutalen Plan.«
»Was könnte das sein?«
»Rache. Hass. Da nichts gestohlen zu sein scheint, muss es sich um eine Kombination von Rache und Hass handeln.«
»Was glauben Sie?«
»Nach wem man suchen soll? Ich weiß es nicht. Aber es fällt mir schwer, an die Theorie vom wahnsinnigen Einzeltäter zu glauben.« Dann berichtete Birgitta Roslin davon, was sie die chinesische Spur nannte. Sie fing von vorn an, mit der Entdeckung ihrer Verwandtschaft zu einigen der Getöteten und der seltsamen Fortsetzung mit dem chinesischen Besucher in Hudiksvall. Als sie merkte, dass Hong wirklich zuhörte, konnte sie nicht aufhören zu erzählen. Schließlich holte sie
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