Der Chinese
Ihrem Land mit ihm passieren?«
»Das kommt auf die Umstände an.«
»Natürlich funktioniert unser Rechtssystem auf die gleiche Weise. Wir beurteilen den Täter, seinen Willen zum Ge ständnis und die besonderen Umstände.«
»Besteht die Gefahr, dass er zum Tode verurteilt wird?«
»Kaum«, antwortete Chan Bing trocken. »Es ist ein west liches Vorurteil, dass wir hierzulande einfache Diebe zum Tode verurteilen. Hätte er eine Waffe benutzt oder Sie schwer verletzt, sähe der Fall anders aus.«
»Aber sein Komplize ist tot?«
»Er hat bei der Festnahme Widerstand geleistet. Die beiden Polizisten, die angegriffen wurden, haben in Notwehr gehandelt.«
»Woher wissen Sie, dass er schuldig war?«
»Er hat Widerstand geleistet.«
»Dazu kann er andere Gründe gehabt haben.«
»Der Mann, den Sie eben gesehen haben, Lao San, hat zugegeben, dass er sein Komplize war.«
»Aber es gibt keine Beweise?«
»Es gibt ein Geständnis.«
Birgitta Roslin sah ein, dass sie Chan Bings Geduld nicht herausfordern sollte. Sie beschloss, zu tun, worum sie gebeten wurde, und dann China so schnell wie möglich zu verlassen. Eine Frau in Polizeiuniform betrat den Raum. Sie vermied es, Birgitta Roslin anzusehen.
Chan Bing las vor, was im Protokoll geschrieben stand. Birgitta Roslin bekam den Eindruck, dass er es eilig hatte. Die Geduld ist zu Ende, dachte sie. Oder etwas anderes ist zu Ende. Ohne dass ich weiß, was.
In einem umständlichen Dokument erklärte Chan Bing, dass Frau Birgitta Roslin, schwedische Staatsangehörige, Lao San, den Täter, der den Raubüberfall auf sie begangen hatte, nicht hatte identifizieren können.
Chan Bing verstummte und schob ihr das Papier hin. Das Protokoll war in Englisch verfasst. »Unterschreiben Sie«, sagte Chan Bing. »Dann können Sie nach Hause fahren.« Birgitta Roslin las die zwei Seiten genau durch, bevor sie unterschrieb. Chan Bing steckte sich eine Zigarette an. Er schien schon vergessen zu haben, dass sie anwesend war. Plötzlich kam Hong ins Zimmer. »Wir können jetzt fahren«, sagte sie. »Es ist vorbei.«
Auf dem Rückweg zum Hotel saß Birgitta Roslin schweigend im Wagen. Bevor sie eingestiegen war, hatte sie Hong nur eine einzige Frage gestellt. »Ich nehme an, dass heute kein passender Flug für mich mehr abgeht?«
»Leider müssen Sie bis morgen warten.«
An der Rezeption lag eine Nachricht, dass ihr Finnair-Flug auf den folgenden Tag umgebucht war. Sie wollte sich von Hong verabschieden, als diese ihr anbot, später am Tag zurückzukommen und mit ihr zusammen zu Abend zu essen. Birgitta Roslin stimmte sofort zu. In Peking allein zu sein konnte sie im Moment am wenigsten ertragen.
Sie trat in den Aufzug und dachte, dass Karin jetzt auf dem Weg nach Hause war, auf dem Luftweg und unsichtbar in den höheren Schichten.
Als sie in ihr Zimmer kam, rief sie als Erstes zu Hause an. Die zeitliche Differenz zu berechnen bereitete ihr Probleme. Als Staffan sich meldete, konnte sie hören, dass sie ihn geweckt hatte. »Wo bist du?«
»In Peking.«
»Warum?«
»Ich bin verspätet.«
»Wie viel Uhr ist es?«
»Es ist ein Uhr Mittag.«
»Bist du nicht jetzt auf dem Weg nach Kopenhagen?«
»Ich wollte dich nicht wecken. Ich komme morgen um die gleiche Zeit an, einen Tag später.« »Ist alles in Ordnung?«
»Es ist alles okay.« Das Gespräch wurde unterbrochen. Sie versuchte, erneut anzurufen, kam aber nicht durch. Daraufhin schickte sie eine SMS und wiederholte, dass sie am nächsten Tag nach Hause käme.
Als sie das Handy aus der Hand legte, sah sie, dass jemand im Zimmer gewesen war, während sie bei der Polizei gesessen hatte. Es war keine plötzliche Einsicht, sondern ein Gefühl, das sich langsam in ihr ausbreitete. Sie stand mitten im Zimmer und sah sich um. Erst konnte sie nicht sagen, was ihren Verdacht geweckt hatte. Dann erkannte sie, dass es der geöffnete Koffer war. Die Kleider lagen nicht so darin, wie sie sie am Abend zuvor gepackt hatte. Sie hatte versucht, den Deckel zu schließen, damit nichts klemmte. Als sie es jetzt erneut versuchte, ging er nicht zu.
Sie setzte sich auf die Bettkante. Ein Zimmermädchen packt meinen Koffer nicht um, dachte sie. Jemand anders ist im Zimmer gewesen und hat meine Sachen durchsucht. Zum zweiten Mal.
Plötzlich begriff sie. Dass sie einen Täter identifizieren sollte, war nichts als ein Vorwand
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