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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Plötzlich bekam sie Angst. Viel zu spät erkannte sie die Möglichkeit, dass nicht nur Hong, sondern auch Chan Bing wusste, dass sie nach Wang Minhao gesucht hatte. Deshalb saß sie am Schreibtisch eines hohen Polizeichefs. Sie war zu einer Gefahr geworden. Es fragte sich nur: Für wen?
     
    Beide wissen Bescheid, dachte sie. Hong ist nicht dabei, weil sie schon weiß, worüber Chan Bing mit mir sprechen wird. Die Fotografie steckte in der Innentasche ihres Mantels. Sie fragte sich, ob sie sie hervorholen und Chan Bing zeigen sollte. Etwas hielt sie davon ab. Im Moment war Chan Bing derjenige, der im Tanz des Abwartens führte, und sie folgte. Chan Bing zog ein paar Papiere heran, die auf dem Tisch lagen. Nicht um zu lesen, wie sie sehen konnte, sondern um Zeit zu gewinnen, bevor er anfing zu sprechen. »Wie viel Geld?« fragte er.
     
    »Sechzig amerikanische Dollar. Ein bisschen weniger in chinesischem Geld.«
     
    »Schmuck? Juwelen? Kreditkarten?«
     
    »Alles war noch da.«
     
    Es summte von einem der Telefone auf seinem Tisch. Chan Bing meldete sich, lauschte und legte das Telefon wieder hin. »Alles klar«, sagte er und stand auf. »Jetzt werden Sie den Mann sehen, der Sie überfallen hat.«
     
    »Sie sagten doch, es wären mehr als einer?«
     
    »Den von den Männern, die Sie überfallen haben, den wir noch vernehmen können.«
     
    Also ist der andere Mann tot, dachte Birgitta Roslin und spürte, wie ihr übel wurde. In diesem Augenblick bereute sie es, sich nicht energischer gewehrt zu haben. Sie hätte darauf bestehen sollen, zusammen mit Karin Wiman nach Hause zu fliegen. Sie war in eine Falle getappt, als sie zugestimmt hatte zu bleiben.
     
    Sie gingen einen Korridor entlang, eine Treppe hinunter und traten durch eine Tür. Das Licht war gedämpft. Ein Polizist stand neben einem Vorhang.
     
    »Ich lasse Sie allein«, sagte Chan Bing. »Wie Sie wissen, können die Männer Sie nicht sehen. Sprechen Sie ins Tischmikrofon, wenn Sie möchten, dass jemand einen Schritt vortreten oder sein Profil zeigen soll.«
     
    »Mit wem spreche ich dann?«
     
    »Sie sprechen mit mir. Nehmen Sie sich Zeit.«
     
    »Es ist sinnlos. Ich weiß nicht, wie oft ich es noch sagen muss, dass ich die Gesichter der Männer, die mich überfallen haben, nicht gesehen habe.«
     
    Chan Bing entgegnete nichts. Der Vorhang wurde zur Seite gezogen, Birgitta Roslin war allein im Raum. Auf der anderen Seite des Spiegelfensters stand eine Reihe von Männern um die dreißig, einfach gekleidet, einige sehr mager. Ihre Gesichter waren fremd, sie kannte nicht eines von ihnen, auch wenn sie für einen kurzen Augenblick glaubte, dass der Mann ganz links an den Mann erinnerte, der von Sture Hermanssons Überwachungskamera in Hudiksvall gefilmt worden war. Aber er war es nicht, dieser Mann hatte ein runderes Gesicht und vollere Lippen.
     
    Aus einem unsichtbaren Lautsprecher erklang Chan Bings Stimme. »Nehmen Sie sich Zeit.«
     
    »Ich habe keinen dieser Männer je zuvor gesehen.« 
    »Lassen Sie Ihre Eindrücke reifen.«
     
    »Auch wenn ich bis morgen hierbleibe, wird sich an meinen Eindrücken nichts ändern.« Chan Bing antwortete nicht. Sie drückte verärgert auf den Mikrofonknopf. »Ich habe nie einen dieser Männer gesehen.«
     
    »Sind Sie sicher?«
     
    »Ja.«
     
    »Sehen Sie genau hin.«
     
    Die Nummer vier von rechts hinter dem Spiegelglas trat plötzlich einen Schritt vor. Der Mann trug eine wattierte Jacke und geflickte Hosen. Sein mageres Gesicht war unrasiert. Chan Bings Stimme klang plötzlich angespannt. »Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?«
     
    »Nie.«
     
    »Er ist einer von denen, die Sie überfallen haben. Lao San, neunundzwanzig Jahre alt, wegen verschiedener Delikte vorbestraft. Sein Vater wurde wegen Mordes hingerichtet.« »Ich habe ihn noch nie gesehen.«
     
    »Er hat den Überfall gestanden.«
     
    »Dann brauchen Sie mich ja wohl kaum noch.«
     
    Ein Polizist, der im Dunkeln hinter ihr gestanden hatte, zog den Vorhang wieder vor. Er machte ihr ein Zeichen mitzukommen. Sie kehrten in das Büro zurück, wo Chan Bing bereits wartete. Hong war nicht zu sehen.
     
    »Wir möchten Ihnen für Ihre Hilfe danken«, sagte Chan Bing. »Jetzt stehen nur noch ein paar Formalitäten aus. Es wird gerade ein Protokoll ins Reine geschrieben.« 
    »Was für ein Protokoll?«
     
    »Über die Gegenüberstellung mit dem Täter.«
     
    »Was wird mit ihm passieren?«
     
    »Ich bin kein Richter. Was würde in

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