Der Chinese
gewesen, um sie aus dem Zimmer zu holen. Alles war plötzlich sehr schnell gegangen, nachdem Chan Bing ihr das Protokoll vorgelesen hatte. In dem Moment musste er Bescheid bekommen haben, dass die Durchsuchung ihres Zimmers abgeschlossen war. Es geht nicht um meine Tasche, dachte sie. Die Polizei durchsucht mein Zimmer aus anderen Gründen. Aus dem gleichen Grund wie Hong unerwartet an meinem Tisch steht und ein Gespräch beginnt.
Es geht nicht um die Tasche, wiederholte sie für sich selbst. Es gibt nur eine Erklärung. Jemand will wissen, warum ich vor einem Gebäude neben einem Krankenhaus das Foto eines unbekannten Mannes gezeigt habe. Vielleicht ist der Mann gar nicht unbekannt?
Die Angst kehrte mit voller Kraft zurück. Sie begann, nach Kameras und Mikrofonen im Zimmer zu suchen, drehte Bilder um und untersuchte Lampenschirme, fand aber nichts. Hong erschien zur verabredeten Zeit an der Rezeption und schlug vor, ein berühmtes Restaurant zu besuchen. Aber Birgitta Roslin wollte das Hotel nicht verlassen. »Ich bin müde«, sagte sie. »Herr Chan Bing ist ein anstrengender Mann. Jetzt möchte ich essen und dann schlafen. Und morgen fliege ich nach Hause.«
Der letzte Satz war als Frage gemeint. Hong nickte. »Morgen fliegen Sie nach Hause.«
Sie setzten sich an eins der hohen Fenster. Ein Pianist spielte diskret auf einer kleinen Estrade in der Mitte des großen Raums, in dem es Aquarien und Springbrunnen gab. »Ich kenne diese Musik«, sagte Birgitta Roslin. »Eine englische Melodie aus dem Zweiten Weltkrieg. ›We'll meet again, don't know where, don't know when...‹ Vielleicht handelt sie von uns?«
»Ich habe immer die nordischen Länder besuchen wollen. Wer weiß?«
Birgitta Roslin trank Rotwein. Weil sie noch nicht gegessen hatte, stieg ihr der Wein zu Kopf. »Jetzt ist alles vorüber«, sagte sie. »Ich kann nach Hause fahren. Ich habe meine Handtasche zurückbekommen, und ich habe die Chinesische Mauer gesehen. Ich habe mich davon überzeugt, dass die chinesische Bauernbewegung enorme Fortschritte gemacht hat. Was in diesem Land geschehen ist, ist eine menschliche Großtat. Als ich jung war, sehnte ich mich danach, umgeben von Tausenden anderer Jugendlicher, mit Maos kleinem roten Buch in der Hand zu marschieren. Wir sind etwa gleich alt. Wovon haben Sie geträumt?«
»Ich war eine von denen, die dort marschierten.«
»Überzeugt?«
»Das waren alle. Haben Sie einmal einen Zirkus oder ein Theater voller Kinder gesehen? Sie schreien vor Freude. Nicht unbedingt über das, was sie sehen, sondern weil sie sich mit tausend anderen Kindern zusammen in einem Zelt oder Theater befinden. Keine Lehrer, keine Eltern. Sie beherrschen die Welt. Ist die Gruppe nur groß genug, kann man von allem Erdenklichen überzeugt sein.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Die kommt jetzt. Ich war wie diese Kinder in dem Zelt. Aber ich war auch überzeugt davon, dass China sich ohne Mao Tse-tung niemals aus der Armut erheben würde. Kommunist zu sein hieß, gegen die Misere zu kämpfen, barfuß gehen zu müssen. Wir kämpften für ein Paar Schuhe für alle.«
»Was geschah dann?«
»Das, wovor Mao stets gewarnt hatte. Dass die große Unruhe unter dem Himmel immer da sein würde. Aber dass die Unruhe mit unterschiedlichen Voraussetzungen geschaffen werden würde. Nur ein Narr glaubt, dass man zweimal in denselben Fluss hinabsteigen kann. Heute kann ich klar erkennen, wie viel von der Zukunft er eigentlich vorhergesehen hat.«
»Sind Sie immer noch Kommunistin?«
»Ja. Nichts hat mich bisher von etwas anderem überzeugt, als dass wir gemeinsam die Armut weiter bekämpfen müssen, die in unserem Land immer noch sehr groß ist.«
Birgitta Roslin machte eine ausholende Armbewegung und stieß an ihr Weinglas, das überschwappte. »Dieses Hotel hier. Wenn ich aus dem Schlaf erwachte, könnte ich in jedem beliebigen Land der Welt sein. Aber kaum in China.« »Der Weg ist immer noch weit.«
Das Essen kam auf den Tisch. Der Pianist hatte zu spielen aufgehört. Birgitta Roslin kämpfte mit ihren Gedanken. Schließlich legte sie das Besteck von sich und sah Hong an, die sofort aufhörte zu essen.
»Sagen Sie mir die Wahrheit. Ich fahre jetzt nach Hause. Sie brauchen mir nicht länger eine Rolle vorzuspielen. Wer sind Sie? Warum bin ich die ganze Zeit überwacht worden? Wer ist Chan Bing? Was waren das für Männer, die ich identifizieren
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