Der Chinese
entfernt von den Ruinen des Palasts des Gelben Kaisers, lagen einige von Mauern umschlossene graue Gebäude, die von der Führung der Kommunistischen Partei Chinas bei gewissen Gelegenheiten genutzt wurden. Die Gebäude, die einen unansehnlichen Eindruck machten, bestanden aus mehreren großen Sitzungssälen, Küche und Restaurant. Sie waren von einem Park umgeben, in dem die Versammelten sich die Beine vertreten oder vertrauliche Einzelgespräche führen konnten. Nur wer zu den innersten Kreisen der Kommunistischen Partei zählte, wusste, dass diese Gebäude, die nie anders als »Der Gelbe Kaiser« genannt wurden, bei den wichtigsten Beratungen über Chinas Zukunft genutzt wurden. So war es auch an einem Wintertag 2006. Am frühen Morgen fuhr eine Reihe schwarzer Limousinen in hohem Tempo durch die Tore in der Mauer, die sogleich wieder geschlossen wurden. Im Inneren des größten Sitzungssaals loderte ein Kaminfeuer. Neunzehn Männer und drei Frauen waren versammelt. Die meisten waren über sechzig Jahre alt, die jüngsten um fünfunddreißig. Alle kannten einander bereits von früheren Gelegenheiten. Zusammen bildeten sie die Elite, die China in der Praxis lenkte, politisch wie wirtschaftlich. Nur zwei der wirklich einflussreichen und mächtigen Personen fehlten: das Staatsoberhaupt und der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Doch gerade diesen beiden Personen sollten die Teilnehmer nach der Konferenz Bericht erstatten und ihnen die Vorschläge unterbreiten, auf die man sich geeinigt hatte.
Auf der Tagesordnung stand heute nur ein Punkt. Er war unter höchster Geheimhaltung formuliert worden, und alle Versammelten hatten ein Schweigegelübde abgelegt. Wer dieses Gelübde brach, brauchte nicht daran zu zweifeln, dass er oder sie binnen kurzem spurlos aus der Öffentlichkeit verschwinden würde.
In einem der abgeteilten Zimmer ging ein etwa vierzigjähriger Mann nervös hin und her. In der Hand hielt er die Rede, die er über Monate hinweg ausgearbeitet hatte und die er an diesem Morgen halten sollte. Er wusste, dass es sich um eins der wichtigsten Dokumente handelte, die seit dem Beginn der Staatsgründung Chinas 1949 dem innersten Kreis der Kommunistischen Partei vorgelegt worden waren. Yan Ba hatte den Auftrag vor zwei Jahren von Chinas Staatsoberhaupt erhalten. Es war eine Mitteilung an der Universität von Peking eingetroffen, wo er als Zukunftsforscher arbeitete, dass der Präsident mit ihm zu sprechen wünsche. Unter vier Augen hatte er den Auftrag entgegengenommen. Von jenem Tag an war er von seinen Dienstpflichten als Professor befreit gewesen. Er hatte einen Stab von dreißig Personen zur Verfügung gehabt. Das gesamte Projekt war unter höchster Geheimhaltung durchgeführt und vom persönlichen Sicherheitsdienst des Präsidenten überwacht worden. Auf einem Computer, über den nur Yan Ba verfügte, war der Text der Rede formuliert worden. Niemand außer ihm selbst hatte Zugang zu dem Text, den er jetzt in der Hand hielt. Kein Laut drang durch die Wände. Einem Gerücht zufolge war der Raum früher das Schlafzimmer von Mao Tsetungs Ehefrau Jiang Qing gewesen, die nach Maos Tod zusammen mit drei anderen - der sogenannten Viererbande festgenommen und vor Gericht gestellt worden war; später hatte sie im Gefängnis Selbstmord begangen. Sie hatte absolute Stille in dem Raum verlangt, wo sie schlafen sollte. Maurer und Anstreicher waren stets vorausgereist, um ihr Schlafzimmer schalldicht zu machen, und Soldaten erschlugen alle bellenden Hunde in der Nähe ihrer jeweiligen Wohnstatt. Yan Ba blickte auf seine Armbanduhr. Es war zehn Minuten vor neun. Genau um Viertel nach neun sollte er seinen Vortrag halten. Um sieben Uhr hatte er eine Pille genommen, die sein Arzt ihm gegeben hatte. Sie würde ihn ruhig machen, aber nicht schläfrig. Jetzt spürte er auch, dass seine Nervosität nachließ. Wenn das, was auf seinem Papier stand, eines Tages Wirklichkeit sein sollte, würde es auf der ganzen Welt gewaltige Konsequenzen haben, nicht allein in China. Aber niemand würde jemals erfahren, dass er es war, der die Vorschläge, die dann durchgeführt wurden, zusammengefasst und formuliert hatte. Er würde zu seiner Professur und seinen Studenten zurückkehren. Sein Gehalt würde steigen, und schon jetzt hatte er eine größere Wohnung in einem besseren Wohngebiet im zentralen Peking bezogen. Das Schweigegelübde würde ihn bis ans Ende seines Lebens binden. Die Verantwortung, die Kritik und vielleicht auch
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