Der Chinese
es damals geglaubt habe.«
»Hast du immer noch Kontakt mit der Polizei?«
»Überhaupt nicht. Ich lese nur, was in den Zeitungen steht.«
Birgitta sah Karin in der großen Bahnhofshalle verschwinden. Dann fuhr sie nach Kastrup, suchte ihren Wagen auf dem Parkplatz und fuhr nach Hause.
Älter zu werden bedeutet eine Form von Rückzug, dachte sie. Man stürmt nicht mehr einfach vorwärts. Eine ruhige, fast unbewusste Rückbesinnung setzt ein. Wie meine Gespräche mit Karin. Wir suchen nach uns selbst, wer wir heute sind und wer wir damals waren.
Gegen zwölf Uhr war sie zurück in Helsingborg. Sie fuhr auf direktem Weg zu ihrem Büro, wo sie ein internes Rundschreiben der Justizbehörde durchlas, bevor sie sich an ihre beiden Anklageschriften setzte. Sie erledigte die Vorbereitung des Prozesses gegen die Frau, die ihre Mutter misshandelt hatte, und packte anschließend die Akte über die Vietnamesen in ihre Tasche, um sie mit nach Hause zu nehmen. Es war wärmer geworden. Die Bäume zeigten das erste Grün. Eine plötzliche Freude wallte in ihr auf. Sie blieb stehen, schloss die Augen und sog die Luft in die Lungen. Noch ist nichts zu spät, dachte sie. Ich habe die Chinesische Mauer gesehen. Noch gibt es andere Mauern und vor allem Inseln, die ich besuchen kann, bevor das Leben vorbei ist und der Deckel zuklappt. Und Staffan und ich werden es bestimmt schaffen, einen Weg aus der Situation herauszufinden, in der wir gelandet sind.
Die Anklage gegen die Vietnamesen war kompliziert und schwer überschaubar. Birgitta Roslin arbeitete bis zehn Uhr am Abend daran. Da hatte sie auch zweimal bei Hans Mattsson angerufen und sich mit ihm beraten. Sie wusste, dass es ihn nie störte, wenn sie ihn zu Hause anrief.
Um elf Uhr machte sie sich fertig, um ins Bett zu gehen. Da klingelte es an der Haustür. Sie runzelte die Stirn, ging aber hin und öffnete. Es war niemand da. Sie trat auf den Treppenabsatz hinaus und blickte die Straße entlang. Ein Wagen fuhr vorüber. Sonst war die Straße leer. Das Gartentor war geschlossen. Jugendliche, dachte sie. Sie klingeln und laufen dann weg.
Sie ging wieder ins Haus und schlief vor Mitternacht ein. Kurz nach zwei wurde sie wach, wusste aber nicht, was sie geweckt hatte. Sie erinnerte sich nicht an einen Traum und horchte ins Dunkel hinaus, hörte aber keine Geräusche. Sie wollte sich schon wieder umdrehen und weiterschlafen, als sie sich im Bett aufrichtete. Sie machte die Nachttischlampe an und horchte wieder. Dann stand sie auf, öffnete die Tür zum Flur. Sie hörte noch immer nichts. Sie zog den Morgenrock an und ging die Treppe hinunter. Türen und Fenster waren geschlossen. Sie stellte sich an ein Fenster zur Straße und zog die Gardine zur Seite. Sie meinte, auf dem Gehweg einen Schatten wahrzunehmen, der hastig verschwand, verwarf es aber als Einbildung. Angst im Dunkeln hatte sie nie gehabt. Vielleicht war sie aufgewacht, weil sie hungrig war. Nach einer Scheibe Brot und einem Glas Wasser ging sie ins Bett zurück und war bald wieder eingeschlafen.
Als sie am folgenden Morgen ihren Aktenkoffer mit den Prozessakten packte, bekam sie das Gefühl, dass jemand in ihrem Arbeitszimmer gewesen war. Es war wie mit ihrem Koffer im Hotelzimmer in Peking. Am Abend hatte sie die dicke Akte neben den Aktenkoffer gelegt. Jetzt lagen einige der Papiere über dem Griff des Aktenkoffers.
Obwohl sie es eilig hatte, ging sie das Erdgeschoss des Hauses durch. Nichts fehlte, alles war unberührt. Ich bilde mir etwas ein, dachte sie. Unerklärliche Geräusche in der Nacht sollte man nicht mit Einbildungen am Morgen erklären. Ich hatte in Peking genug Verfolgungsideen. Hier in Helsingborg brauche ich sie nicht.
Birgitta Roslin verließ das Haus und ging zu Fuß den Hang hinunter zur Stadt und zum Amtsgericht. Seit dem Vortag war die Temperatur noch um ein paar Grad gestiegen. Unterwegs machte sie sich Gedanken über den ersten Fall, der auf sie wartete. Die Sicherheitsvorkehrungen sollten verstärkt werden: Es bestand die Gefahr, dass es zu Handgreiflichkeiten zwischen den wartenden vietnamesischen Zuhörern kam. In Abstimmung mit dem Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten hatte sie zwei Verhandlungstage angesetzt. Sie vermutete, dass dies das Minimum war, doch der Druck, der auf dem Gericht lastete, war so stark, dass sie eingewilligt hatte. In ihrem eigenen Kalender hatte sie einen weiteren Tag reserviert und für den nächsten Fall einen
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