Der Chinese
bedeutsam. Das musst du doch zugeben.«
»Du solltest jetzt schlafen. Denk daran, dass du morgen ausgeruht sein musst, wenn du neue Verbrecher ins Gefängnis schicken willst.«
Sie lag noch lange wach, der dünne Faden zog sich immer weiter in die Länge, bis er zu reißen drohte. Da fuhr sie aus dem Halbschlaf hoch und dachte wieder an ihre Mutter. Fünfzehn Jahre war sie jetzt tot. Es fiel Birgitta Roslin schwer, sich selbst in ihr zu sehen, ihr eigenes Leben in der Erinnerung an die Person zu spiegeln, die ihre Mutter war. Am Ende schlief sie doch ein und wurde erst wach, als Staffan mit feuchten Haaren an ihrem Bett stand und seine Uniform anzog. Ich bin dein General, pflegte er zu sagen. Ohne Waffe in der Hand, nur mit einem Stift, mit dem ich die Fahrscheine ankreuze.
Sie stellte sich schlafend und wartete, bis die Haustür zuschlug. Dann stand sie auf und setzte sich an den Computer in ihrem Arbeitszimmer. Sie suchte auf verschiedenes: Internetseiten Informationen. Das Geschehen oben in Hälsingland schien noch immer weitgehend unklar zu sein. Die einzige Klarheit bestand in der Erkenntnis, dass die Tatwaffe aller Wahrscheinlichkeit nach ein großes Messer oder eine andere Hiebwaffe war.
Ich will mehr darüber wissen, dachte sie. Zumindest ob die Pflegeeltern meiner Mutter unter den Menschen waren, die dort abgeschlachtet wurden.
Um acht Uhr ließ sie alle Gedanken an den Massenmord fallen. Sie sollte an diesem Tag einen Fall von Menschenschmuggel verhandeln, in dem zwei Iraker vor Gericht standen.
Um zehn Uhr hatte sie ihre Papiere zusammengestellt, in der Voruntersuchung geblättert und am Richtertisch Platz genommen. Hilf mir jetzt, mein alter Freund Anker, dass ich auch diesen Tag überstehe, dachte sie.
Dann schlug sie leicht mit dem Hammer auf den Tisch und bat den Staatsanwalt, die Anklage vorzutragen.
Hinter ihr waren hohe Fenster.
Bevor sie sich wieder setzte, sah sie, dass die Sonne im Begriff war, die schweren Wolken zu durchdringen, die während der Nacht über Schweden herangezogen waren.
Als der Prozess zwei Tage später zu Ende ging, wusste Birgitta Roslin schon, wie die Urteile aussehen würden. Dem älteren Mann, Abdul Ibn-Yamed, dem Kopf des Schmugglerrings, würde sie drei Jahre und zwei Monate geben. Der jüngere Mann, Yassir al-Habi, sein Assistent, würde mit einem Jahr davonkommen. Beide würden nach Verbüßung ihrer Strafe ausgewiesen werden.
Sie hatte Vergleiche mit früheren Urteilen in ähnlichen Fällen angestellt und konnte zu keiner anderen Einschätzung kommen als der, dass es sich um schwerwiegende Verbrechen handelte. Strenge Strafen waren angebracht. Viele der ins Land geschmuggelten Menschen waren bedroht und misshandelt worden, wenn sie das für die falschen Einreisepapiere und die lange Reise geschuldete Geld nicht bezahlen konnten. Birgitta hatte geradezu einen Widerwillen gegen den älteren der beiden Männer empfunden. Er hatte mit sentimentalen Argumenten an sie und den Staatsanwalt appelliert und behauptet, nie etwas von dem Geld der Flüchtlinge behalten, sondern es für wohltätige Zwecke in seiner Heimat gespendet zu haben. Während einer Verhandlungspause war der Staatsanwalt in ihr Zimmer gekommen und hatte eine Tasse Kaffee bei ihr getrunken. Da hatte er im Vorbeigehen erwähnt, dass Abdul Ibn-Yamed in einem Mercedes umherfuhr, der nahezu eine Million Kronen kostete.
Das Gerichtsverfahren war anstrengend. Die Tage wurden lang, sie schaffte nicht viel anderes, als zu essen und zu schlafen und ihre Notizen zu studieren, bevor sie wieder auf ihrem Stuhl sitzen musste. Ihre Zwillinge riefen an und baten sie, nach Lund zu kommen, aber sie hatte keine Zeit. Nach den Menschenschmugglern wartete ein kaum entflechtbarer Wirrwarr mit rumänischen Kreditkartenbetrügern auf sie. Was in diesen Tagen in dem Dorf in Hälsingland geschah, konnte sie erst recht nicht mehr verfolgen. Sie blätterte morgens die Zeitung durch, war aber abends meistens zu müde, sich die Nachrichten im Fernsehen anzuschauen.
Am Morgen des Tages, an dem Birgitta Roslin das Verfahren gegen die Betrüger aus Rumänien vorbereiten wollte, entdeckte sie in ihrem Kalender, dass sie bei ihrem Hausarzt einen Termin für die jährliche Routinekontrolle hatte. Sie überlegte, ob sie den Termin um zwei Wochen verschieben sollte. Abgesehen davon, dass sie erschöpft war, dass ihre Kondition schlechter geworden war und dass sie manchmal Panikattacken
Weitere Kostenlose Bücher