Der Chinese
bekam, konnte sie sich nicht vorstellen, krank zu sein. Sie führte ein geregeltes Leben und war fast nie erkältet. Aber sie rief nicht an, sondern nahm den Termin wahr.
Die Arztpraxis lag nicht weit vom Stadttheater. Sie ließ den Wagen stehen und ging zu Fuß. Es war windstill, kalt und klar. Der vor ein paar Tagen gefallene Schnee war wieder geschmolzen. Sie blieb vor einem Schaufenster stehen und betrachtete ein Kostüm. Der Preis ließ sie erschrecken. Dafür könnte sie viele Flaschen guten Rotwein kaufen.
Im Wartezimmer lag eine Zeitung, deren erste Seite ganz von Neuigkeiten über den Massenmord in Hälsingland eingenommen wurde. Sie hatte kaum zu lesen begonnen, als sie schon ins Sprechzimmer gerufen wurde. Der Arzt war ein älterer Mann, der sie in manchem an den alten Richter erinnerte. Sie ging schon seit zehn Jahren zu ihm. Ein Richterkollege hatte ihn ihr empfohlen. Er fragte, ob es ihr gutgehe und ob sie Krämpfe habe, und nachdem sie geantwortet hatte, schickte er sie zu einer Sprechstundenhilfe, die ihr Blut abnahm. Danach setzte sie sich wieder in den Warteraum. Ein anderer Patient hatte inzwischen die Zeitung genommen. Birgitta Roslin schloss die Augen und wartete. In Gedanken stellte sie sich ihre Familie vor, was jeder gerade tat oder zumindest wo er sich in diesem Augenblick befand. Staffan war in einem Zug unterwegs nach Hallsberg. Er würde erst spät nach Hause kommen. David arbeitete in Astra Zenecas Laboratorium in der Nähe von Göteborg. Wo Anna sich befand, war schwer zu sagen. Als sie vor einem Monat zuletzt von ihr gehört hatten, war sie in Nepal gewesen. Die Zwillinge waren in Lund und wollten, dass sie sie besuchte.
Über diesen Gedanken nickte sie ein und wachte davon auf, dass die Arzthelferin sie an der Schulter berührte. »Sie können jetzt zum Doktor hineingehen.«
So erschöpft bin ich ja wohl doch nicht, dass ich in einem Wartezimmer einschlafen muss, dachte Birgitta Roslin, während sie ins Sprechzimmer ging und sich setzte.
»Ihr Blutbild ist nicht ganz in Ordnung«, begann der Arzt. »Die Zahl der roten Blutkörperchen ist viel zu niedrig. Dem könnten wir versuchsweise mit einem Eisenpräparat abhelfen.«
»Dann fehlt mir also weiter nichts?«
»Ich kenne Sie jetzt seit vielen Jahren. Die Erschöpfung, von der Sie sprechen, sieht man Ihnen deutlich an, wenn Sie erlauben, dass ich offen spreche.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ihr Blutdruck ist viel zu hoch. Sie machen allgemein den Eindruck, überarbeitet zu sein. Schlafen Sie gut?«
»Ich denke schon, aber ich werde oft wach.«
»Schwindelgefühle?«
»Nein.«
»Angst?«
»Ja.«
»Oft?«
»Es kommt vor. Manchmal habe ich sogar Panikanfälle. Dann muss ich mich an einer Wand abstützen, weil ich glaube, sonst zu fallen. Oder vielleicht, dass die Welt zusammenfällt.«
»Ich werde Sie krankschreiben. Sie müssen sich ausruhen. Ihre Blutwerte müssen besser werden, und vor allem muss sich Ihr Blutdruck stabilisieren. Das werden wir uns noch genauer ansehen.«
»Sie können mich nicht krankschreiben. Ich habe so unerhört viel zu tun.«
»Genau deshalb.«
Sie blickte ihn fragend an. »Ist es ernst?«
»Nicht so ernst, dass wir Sie nicht wieder hinbekommen.«
»Muss ich mir Sorgen machen?« »Wenn Sie sich nicht daran halten, was ich sage, ja. Andernfalls nein.«
Einige Minuten später stand Birgitta Roslin auf der Straße und dachte verwundert, dass sie die kommenden zwei Wochen nicht arbeiten würde. Der Arzt hatte ihr Leben in Unordnung gebracht.
Sie ging zu ihrem Arbeitsplatz und sprach mit ihrem Vorgesetzten Hans Mattsson. Gemeinsam fanden sie eine Lösung, wie mit den beiden Gerichtsverfahren, die Birgitta Roslin vor sich hatte, verfahren werden sollte. Anschließend sprach sie mit ihrer Sekretärin, schickte ein paar liegengebliebene Briefe ab, suchte eine Apotheke auf, um ihre Medikamente zu holen, und fuhr nach Hause.
Sie machte Mittagessen und setzte sich dann aufs Sofa. Sie holte die Zeitung und begann zu lesen. Nach mehr als vier Tagen waren immer noch nicht die Namen aller Toten von Hesjövallen veröffentlicht worden. Ein Kriminalbeamter namens Sundberg äußerte sich. Er appellierte an die Allgemeinheit, eventuelle Beobachtungen mitzuteilen. Man hatte noch keine konkrete Spur. So schwer es auch fiel, daran zu glauben, sprach doch bislang nichts dafür, dass es mehrere Täter gewesen waren.
An einer
Weitere Kostenlose Bücher