Der Chinese
Brief war auf Schwedisch geschrieben, doch mit vielen englischen Wörtern. Jemand mit Namen Gustaf erzählte von seiner Arbeit als Schweinefarmer. Ein Kind, das Emily hieß, ist gerade gestorben, im Haus herrscht »große sorrow«. Er will wissen, wie es zu Hause in Hälsingland aussieht, wie es um die Familie steht, um die Ernte und um die Tiere. Der Brief trug das Datum 19. Juni 1896. Auf dem Umschlag stand die Adresse August Andren, Hesjövallen, Sweden. Aber da war mein Großvater noch nicht geboren, dachte sie. Vermutlich war der Brief an seinen Vater gerichtet, weil er in Gerdas Familie aufbewahrt wurde. Aber warum ist er bei ihr gelandet?
Am unteren Rand des Briefbogens stand eine Adresse. Mr Gustaf Andren, Minneapolis Post Office, Minnesota, United States of America.
Sie schlug den alten Atlas wieder auf. Minnesota ist Bauernland. Dorthin war also vor über hundert Jahren ein Mit glied der Familie Andren aus Hesjövallen ausgewandert. Aber sie fand auch Briefe, aus denen hervorging, dass ein Jan August Andren in einem anderen Teil der USA gelandet war. Er hatte anscheinend bei der Eisenbahn gearbeitet, die die Ostküste und die Westküste des riesigen Landes miteinander verband. Im Brief erkundigte er sich nach Verwandten, lebenden und toten. Aber der Text war über weite Strecken unleserlich. Die Schrift war verwischt.
Jan Augusts Adresse war Reno Post Office, Nevada, United States of America.
Sie las weiter, fand aber nichts mehr in dem Stapel, was ihr Verhältnis zur Familie Andren betraf.
Sie schob die Papierstapel zur Seite, ging ins Internet und begann ohne große Hoffnung, nach der Postanschrift in Minneapolis zu suchen, die Gustaf Andren angegeben hatte. Wie erwartet, geriet sie in eine Sackgasse. Danach suchte sie die Postadresse in Nevada. Sie erhielt einen Hinweis auf eine Zeitung mit Namen Reno Gazette Journal. In diesem Moment klingelte das Telefon. Es war das Reisebüro. Ein freundlicher junger Mann mit dänischem Akzent lotste sie durch alle Einzelheiten der Reise, beschrieb das Hotel, und sie zögerte nicht. Sie sagte zu, ließ eine vorläufige Buchung vornehmen und versprach, sie bis zum folgenden Morgen zu bestätigen.
Noch einmal versuchte sie, die Adresse des Reno Gazette Journal anzuklicken. Am rechten Rand gab es eine Unmenge von Themen und Artikeln, zwischen denen sie wählen konnte. Als sie die Seite schon wegklicken wollte, fiel ihr ein, dass sie nach Andren gesucht hatte, nicht nur nach der Adresse. Irgendein Bezug zu dem Namen musste also vorhanden sein und bewirkt haben, dass sie beim Reno Gazette Journal gelandet war. Sie begann zu lesen, Seite um Seite, und klickte sich von einem Themenbereich zum nächsten.
Als die Seite auf ihrem Bildschirm erschien, fuhr sie zusammen. Zunächst las sie, ohne zu verstehen, dann ein zweites Mal, langsam, und dachte, dass einfach nicht wahr sein konnte, was sie da las. Sie stand auf und trat ein paar Meter vom Computer zurück. Doch der Text und die Fotos verschwanden nicht.
Sie druckte die Seiten aus und nahm sie mit in die Küche. Langsam las sie alles noch einmal.
Am vierten Januar hatte sich in der kleinen Stadt Ankersville nordöstlich von Reno ein brutaler Mord ereignet. Der Inhaber einer Schlosserei und seine ganze Familie waren am Morgen von einem Nachbarn tot aufgefunden worden; der Mann hatte sich Gedanken gemacht, weil die Werkstatt nicht wie gewohnt aufmachte. Die Polizei hatte noch keine Spur. Aber es war klar, dass die ganze Familie Andren, Jack, seine Frau Connie und ihre zwei Kinder Steven und Laura, mit einer Art Hiebwaffe ermordet worden war. Nichts deutete darauf hin, dass es sich um einen Einbruch oder einen Raubüberfall handelte. Es gab kein Motiv. Die Familie Andren war beliebt und hatte keine Feinde. Die Polizei suchte jetzt nach einem psychisch kranken Menschen oder vielleicht einem verzweifelten Drogenabhängigen, der diese schreckliche Tat begangen hatte.
Sie saß reglos da. Durchs Fenster drang das Geräusch eines Müllwagens.
Das ist kein Wahnsinniger, dachte sie. Die Polizei in Hälsingland irrt sich ebenso wie die Polizei in Nevada. Es ist ein verschlagener Täter - wenn nicht mehrere -, der weiß, was er tut. Zum ersten Mal verspürte sie eine schleichende Angst. Als würde sie aus dem Verborgenen beobachtet.
Sie ging hinaus in den Flur und kontrollierte, ob die Haustür verschlossen war. Dann setzte sie sich wieder an den Computer und suchte die
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