Der Chinese
es keine Regel, die es untersagte.
Am liebsten wollte sie von einer Lerche schreiben. Ein Lied über einen Vogel, über Liebe, mit einem Refrain, den niemand je vergessen könnte. War ihr Vater ein leidenschaftlicher Sterngucker gewesen, so konnte sie sich als eine leidenschaftliche Refrainsucherin betrachten. Sie waren beide leidenschaftliche Menschen, aber nur er hatte zum Himmel gestarrt.
Um drei Uhr ging sie ins Bett, schüttelte Staffan, der schnarchte. Als er sich umgedreht hatte und verstummt war, schlief sie ein.
Am Morgen erinnerte sich Birgitta Roslin an einen Traum, den sie in der Nacht gehabt hatte. Sie hatte ihre Mutter gesehen. Die Mutter sprach zu ihr, ohne dass sie verstand, was sie sagte. Es war, als befände sie sich hinter einer Glasscheibe. Es schien unendlich lange so weiterzugehen, die Mutter immer aufgebrachter darüber, dass ihre Tochter sie nicht verstehen konnte. Sie selbst verwundert darüber, was sie voneinander trennte.
Die Erinnerung ist wie Glas, dachte sie. Wer gestorben ist, bleibt weiterhin sichtbar, ganz nahe. Aber wir können uns nicht mehr erreichen. Der Tod ist stumm, er verbietet Gespräche, fordert Schweigen.
Birgitta Roslin stand auf. Ein Gedanke nahm in ihrem Kopf Gestalt an. Er war plötzlich da, und er war sehr deutlich. Eigentlich verstand sie nicht, warum sie ihn nicht schon früher gehabt hatte. Aber ihre Mutter hatte selbst ihre Vergangenheit hinter sich gelassen. Sie hatte von Birgitta, ihrem einzigen Kind, nie verlangt, dass sie sich für das frühere Leben ihrer Mutter interessieren sollte.
Sie holte einen Straßenatlas von Schweden hervor. Mit den Kindern waren sie früher im Sommer zu Ferienhäusern gefahren, die sie gemietet hatten, meistens für einen Monat. Nur selten, wie in den beiden Sommern, die sie auf Gotland verbracht hatten, waren sie geflogen. Aber sie waren nie mit dem Zug gefahren, und damals wäre es Staffan nie in den Sinn gekommen, dass er eines Tages sein Anwaltsdasein gegen das eines Zugschaffners tauschen würde.
Sie schlug eine Übersichtskarte auf. Hälsingland lag nördlicher, als sie es sich vorgestellt hatte. Hesjövallen konnte sie nicht finden. Es war ein so unbedeutendes Dorf, dass es gar nicht verzeichnet war.
Als sie den Atlas weglegte, hatte sie sich entschieden. Sie würde den Wagen nehmen und nach Hudiksvall hinauffahren. Zum einen, um den Schauplatz eines Verbrechens zu besuchen, vor allem aber, um das Dorf zu sehen, in dem ihre Mutter aufgewachsen war.
Als sie jünger war, hatte sie sich vorgenommen, einmal eine große Reise durch Schweden zu machen. Die »Heimatreise« pflegte sie sie zu nennen. Die Reise sollte bis in den äußersten Norden nach Treriksröset und dann zurück zur Südküste Schonens führen, wo sie dem Kontinent nahe war und das übrige Land im Rücken hatte. Auf dem Weg nach Norden wollte sie der Küste folgen, und auf dem Rückweg wollte sie die Straßen im Landesinneren benutzen. Aber es war nie etwas aus der Reise geworden. Als sie mit Staffan darüber gesprochen hatte, zeigte er sich uninteressiert. In all den Jahren mit den Kindern war es unmöglich gewesen.
Jetzt konnte sie endlich zumindest einen kleinen Teil dieser Reise machen.
Als Staffan gefrühstückt und sich fertig gemacht hatte für den Zug nach Alvesta, den letzten, bevor er ein paar freie Tage hatte, erzählte sie ihm von ihrem Plan. Er hatte selten Einwände gegen ihre Ideen und hatte auch diesmal keine. Fragte lediglich, wie lange sie fortbliebe und ob ihr Arzt Einwände hätte wegen der Anstrengung, die eine so lange Fahrt mit dem Auto bedeutete.
Erst als er an der Haustür stand, fuhr sie aus der Haut. Sie hatten sich in der Küche verabschiedet, aber jetzt kam sie hinter ihm her und warf wütend mit der Morgenzeitung nach ihm.
»Was ist denn?«
»Interessiert es dich überhaupt, warum ich wegfahren will?«
»Du hast es mir doch erklärt.«
»Begreifst du nicht, dass ich vielleicht auch Zeit brauche, darüber nachzudenken, was mit uns los ist?«
»Darüber können wir jetzt nicht reden. Ich komme zu spät zum Zug.«
»Es passt ja nie! Am Abend ist die falsche Zeit, am Morgen ist die falsche Zeit. Hast du nie das Bedürfnis, mit mir über unser Leben zu sprechen?«
»Du weißt, dass ich nicht so überspannt bin wie du.«
»Überspannt? Nennst du es überspannt, wenn ich darauf reagiere, dass wir seit einem Jahr nicht mehr miteinander geschlafen
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