Der Chinese
in Hudiksvall anrufen und sich mit dem Mann namens Erik Hudden verbinden lassen sollte. Aber was konnte er noch hinzuzufügen haben? Birgitta Roslin beschloss, auf den Anruf zu verzichten. Stattdessen begann sie, die Papiere, die in der Mappe ihrer Mutter und ihres Vaters lagen, gründlich durchzulesen. Es war viele Jahre her, seit sie sie zuletzt geöffnet hatte. Einen Teil der Dokumente hatte sie eigentlich nie beachtet. Sie sortierte den Inhalt der dicken Mappe in drei Stapel. Der eine betraf die Geschichte ihres Vaters, der auf dem Grund der Gävlebucht ruhte. Im Brackwasser der Ostsee werden Skelette nicht zersetzt. Irgendwo im Bodenschlamm waren seine Knochen und sein Schädel. Der zweite Stapel handelte von seinem gemeinsamen Leben mit ihrer Mutter, in dem sie selbst vorkam, vor und nach ihrer Geburt. Schließlich war noch der dickste Stapel übrig, der von Gerda Lööf handelte, die eine Andren wurde. Langsam las sie alle diese Papiere durch. Als sie zu den Dokumenten kam, die die Zeit betrafen, als die Mutter Pflegekind gewesen und von der Familie Andren adoptiert worden war, ging Birgitta Roslin langsamer vor. Viele der Papiere waren vergilbt und selbst mit einer Lupe schwer zu lesen.
Sie nahm einen Notizblock und notierte Namen und Al ter. Sie selbst war im Frühjahr 1949 geboren. Damals war ihre Mutter achtzehn Jahre alt gewesen. Sie war 1931 geboren. In den Papieren fand sie jetzt Augusts und Britas Geburtsdaten. Brita war im August 1909 geboren und er im Dezember 1910. Sie waren also einundzwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt, als Gerda geboren wurde, und unter dreißig, als sie zu ihnen gekommen war.
Sie entdeckte nichts, was verriet, dass sie in Hesjövallen gewohnt hatten. Aber das Foto, das sie noch einmal mit dem Bild aus der Zeitung verglich, überzeugte sie. Es konnte kein Irrtum sein.
Sie begann die Menschen zu studieren, die aufrecht und steif auf dem altertümlichen Foto posierten. Es waren zwei jüngere Menschen dabei, ein Mann und eine Frau, die ein wenig seitwärts standen, neben einem älteren Paar in der Bildmitte. Konnten das Brita und August sein? Auf der Rückseite war nichts geschrieben, auch keine Jahreszahl. Sie versuchte zu bestimmen, wann das Bild gemacht worden war. Was sagten die Kleider aus? Die Personen auf dem Bild hatten sich fein gemacht, aber sie wohnten auf dem Lande, wo ein Anzug ein Menschenalter halten konnte.
Sie schob die Fotos zur Seite und ging weiter die Briefe und Dokumente durch. Im Jahre 1942 ist Brita wegen einer Magenerkrankung ins Krankenhaus von Hudiksvall eingeliefert worden. Gerda schreibt Briefe an sie und wünscht ihr gute Besserung. Gerda ist elf Jahre alt und schreibt mit kantigen Buchstaben. Manche Wörter sind falsch geschrieben, eine Blume mit ungleichen Blättern schmückt einen Rand des Briefes.
Birgitta Roslin war gerührt, als sie diesen Brief fand, und wunderte sich darüber, dass sie ihn zuvor nie gesehen hatte. Er hatte in einem anderen Brief gelegen. Aber warum hatte sie ihn nie geöffnet? War es wegen des Kummers nach dem Tod Gerdas, dass sie für lange Zeit an nichts, was an sie erinnerte, zu rühren vermochte?
Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Sie hatte ihrer Mutter für alles zu danken. Gerda, die selbst nicht einmal die mittlere Reife hatte, trieb ihre Tochter unermüdlich dazu an weiter zustudieren. Jetzt sind wir an der Reihe, hatte sie gesagt. Jetzt werden sich die Töchter der Arbeiterklasse eine Ausbildung verschaffen. Das hatte Birgitta Roslin auch getan. Es war in den 1960er Jahren gewesen, als nicht länger nur die Kinder aus bürgerlichen Familien an die Universität strömten. Sich radikalen Linksgruppen anzuschließen war selbstverständlich. Man lebte nicht nur, um zu verstehen, sondern auch, um zu verändern.
Sie schlug die Augen wieder auf. Es ist nicht so gekommen, wie ich dachte, sagte sie sich. Ich bin zwar Juristin geworden, aber ich habe meine radikalen Ansichten aufgegeben, ohne eigentlich zu wissen, warum. Nicht einmal jetzt, mit fast sechzig Jahren, wage ich an die große Frage zu rühren, was aus meinem Leben geworden ist.
Sie arbeitete sich weiter methodisch durch die Dokumente. Da lag wieder ein Brief. Der Umschlag war von blasser blauer Farbe, in Amerika abgestempelt. Das dünne Briefpapier war mit winzigen Buchstaben bedeckt. Sie richtete die Schreibtischlampe darauf und begann, die Wörter mit Hilfe des Vergrößerungsglases zu entziffern. Der
Weitere Kostenlose Bücher