Der Chinese
haben?«
»Wir können darüber jetzt nicht reden. Ich habe keine Zeit.«
»Du solltest dir bald mal Zeit nehmen.«
»Was meinst du denn damit?«
»Dass meine Geduld bald ein Ende hat.«
»Ist das eine Drohung?«
»Ich weiß nur, dass ich so nicht weitermachen will. Jetzt hau ab zu deinem Scheißzug.«
Sie ging zurück in die Küche und hörte die Haustür zuschlagen. Sie war erleichtert darüber, dass sie endlich ausgesprochen hatte, wie sie sich fühlte, aber zugleich war sie besorgt, wie er reagieren würde.
Am Abend rief er an. Keiner von ihnen erwähnte den Auftritt vom Morgen. Aber sie hörte seiner Stimme an, dass er bedrückt war. Vielleicht würde es ihnen jetzt endlich möglich sein, über das zu reden, was nicht mehr zu verbergen war? Früh am Morgen des folgenden Tages setzte sie sich in den Wagen, um nach Norden zu fahren. Sie hatte mit ihren Kindern gesprochen und hinterher gedacht, dass sie von ihrem eigenen Leben in Anspruch genommen waren und sich nicht auch noch dafür interessieren konnten, was ihre Mutter beschäftigte. Sie hatte noch nichts davon erwähnt, dass es eine Verbindung von ihr zu dem Geschehen in Hesjövallen gab. Staffan, der in der Nacht nach Hause gekommen war, trug ihr den Koffer ans Auto und legte ihn auf den Rücksitz. »Wo wirst du übernachten?«
»Es gibt ein kleines Hotel in Lindesberg. Ich rufe dich an. Später übernachte ich vermutlich in Hudiksvall.« Er streichelte ihr schnell die Wange und winkte ihr nach. Sie nahm sich Zeit, hielt oft an und kam am späten Nachmittag in Lindesberg an. Erst während der letzten Stunde war sie auf schneebedeckten Straßen gefahren. Sie fuhr zum Hotel, aß in einem menschenleeren kleinen Restaurant und ging früh ins Bett. In einer Abendzeitung, die immer noch beherrscht war von der großen und furchterregenden Tragödie, las sie, dass es am nächsten Tag kälter werden, aber weiterhin niederschlagsfrei bleiben würde.
Sie schlief tief, erinnerte sich beim Erwachen nicht an ihre Träume und fuhr weiter in Richtung Küste und Hälsingland. Sie machte das Radio nicht an, sondern genoss die Stille und die anscheinend endlosen Wälder. Was hätte es wohl bedeutet, dort aufgewachsen zu sein. Sie kannte aus der Kindheit nur wogende Kornfelder und offene Landschaften. In meinem Herzen bin ich Nomade, dachte sie. Und der Nomade sucht nicht den Wald, sondern die offene Ebene.
In Gedanken begann sie, Wörter zu suchen, die sich auf Nomade reimten. Die zwei letzten Silben gaben ihr zahlreiche Alternativen. Vielleicht ein Lied über mich selbst, dachte sie. Eine Richterin auf den Spuren des Nomaden, den sie in sich trägt.
Gegen zehn Uhr hielt sie an einer Raststätte südlich von Njutänger und trank Kaffee. Sie war der einzige Gast. Ein Exemplar der Hudiksvalls Tidning lag auf einem Tisch. Der Massenmord beherrschte alles, doch sie fand nichts, was sie nicht schon wusste. Polizeichef Tobias Ludwig erklärte, dass die Namen aller Toten am folgenden Tag bekanntgegeben würden. Auf dem verschwommenen Foto sah er viel zu jung aus für die große Verantwortung, die er trug.
Eine ältere Frau ging herum und goss die Blumentöpfe in den Fenstern.
Birgitta Roslin nickte ihr zu. »Hier ist es leer«, sagte sie. »Ich dachte, die Gegend würde von Journalisten und Polizisten überschwemmt, nach allem, was passiert ist.«
»Die sind alle in Hudik«, erwiderte die Frau in breitem Dialekt. »Ich habe gehört, dass es dort kein einziges freies Zimmer mehr gibt.«
»Was sagen denn die Menschen hier in der Gegend?« Die Frau blieb an Birgitta Roslins Tisch stehen und betrachtete sie abwartend. »Sind Sie auch Journalistin?«
»Nein. Keineswegs. Ich bin nur auf der Durchreise.«
»Was andere denken, weiß ich nicht. Aber ich denke, dass nicht einmal mehr die ländlichen Gegenden von der Brutalität der Städte verschont bleiben.«
Das klingt auswendig gelernt, dachte Birgitta Roslin. Sie hat es irgendwo gelesen, oder jemand hat es im Fernsehen gesagt, und sie hat die Worte zu ihren eigenen gemacht. Sie zahlte, ging zu ihrem Wagen und breitete die Karte aus. Es war nicht mehr sehr weit bis Hudiksvall. Wenn sie ein Stück weiter nördlich ins Landesinnere abbog, würde sie an Hesjövallen vorbeikommen. Sie zögerte einen Augenblick, fühlte sich wie eine Hyäne, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sie hatte wirklich einen Grund hinzufahren. In Iggesund bog sie nach links ab
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