Der Chinese
Birgitta Roslin. Eine Woche ohne Staffan, ohne Gerichtsverhandlung, ohne den Alltag. Ich bin nicht besonders erfahren in der Kunst, meine Gefühle und Vorstellungen von mir selbst und meinem Leben zu beachten. Aber in meinem Alter sollte ich mich immerhin so klar sehen, dass ich erkenne, wo es hapert, und die notwendigen Kursänderungen vornehmen. Als ich jung war, träumte ich davon, als erste Frau allein um die Welt zu segeln. Daraus wurde nichts. Aber ich erinnere mich auf jeden Fall an ein paar Navigationsbegriffe und weiß, wie man sich durch enge Fahrwasser manövriert. Ich kann ein paar Tage für endlose Fahrten hin und her über den Sund oder an einem Strand auf Teneriffa gut brauchen und mich fragen, ob es schon das Alter ist oder ob es mir möglich sein wird, mich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Die Menopause habe ich gut hinter mich gebracht. Aber was jetzt mit mir passiert, weiß ich nicht richtig. Das werde ich versuchen herauszufinden. Aber vor allem muss ich wissen, ob mein Blutdruck und meine Angstattacken mit Staffan zu tun haben. Und begreifen, dass es uns nie gutgehen kann, wenn wir es nicht schaffen, uns aus diesem Zustand der Mutlosigkeit zu lösen.
Sie begann sofort, ihre Reise zu planen. Weil es ein Problem mit der Online-Buchung gab, schickte sie ihren Namen und ihre Telefonnummer und die Reise, um die es ging, per EMail ab. Sie erhielt sofort eine Antwort: Man werde binnen einer Stunde Kontakt mit ihr aufnehmen.
Die Stunde war fast vergangen, als ihr Telefon klingelte. Aber es war nicht das Reisebüro. »Ich heiße Vivi Sundberg. Ich möchte Birgitta Roslin sprechen.«
»Das bin ich.«
»Ich bin darüber informiert worden, wer Sie sind. Aber ich weiß nicht so richtig, was Sie fragen wollen. Wie Sie sich vorstellen können, haben wir hier alle Hände voll zu tun. Sie sind Richterin?«
»Das stimmt. Ich will es kurz machen. Meine Mutter, die seit langem tot ist, war von einer Familie mit dem Namen Andren adoptiert worden. Ich habe Fotos gesehen, die darauf hindeuten, dass sie in einem der Häuser gewohnt hat.«
»Mit der Benachrichtigung der Angehörigen habe ich nichts zu tun. Ich schlage vor, Sie sprechen mit Erik Hudden.«
»Aber es gab also Menschen im Dorf, die Andren hießen?«
»Die Familie Andren war praktisch die größte im Dorf.«
»Und sie sind alle tot?«
»Darauf kann ich nicht antworten. Haben Sie die Vornamen der Pflegeeltern Ihrer Mutter?« Birgitta Roslin hatte die Mappe neben sich liegen. Sie knüpfte das Band auf und suchte in den Papieren. »Ich kann nicht warten«, sagte Vivi Sundberg. »Rufen Sie zurück, wenn Sie die Namen gefunden haben.«
»Ich habe sie hier. Brita und August Andren. Sie müssen über neunzig sein. Vielleicht sogar fünfundneunzig.« Es dauerte einen Moment, bis Vivi Sundberg antwortete. Birgitta Roslin hörte Papier rascheln.
Vivi Sundberg kam wieder an den Hörer. »Ich habe sie hier. Sie sind leider tot, und der Ältere war sechsundneunzig Jahre alt. Darf ich Sie bitten, diese Informationen nicht an die Presse weiterzugeben.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Sie sind Richterin. Sie wissen sicher, wie es manchmal geht. Und warum ich das gesagt habe.«
Birgitta Roslin wusste es sehr gut. Mit ihren Kollegen hatte sie oft darüber gesprochen, dass sie selten oder nie von Journalisten belästigt wurden, weil diese kaum damit rechneten, von Richtern Informationen, die geheim gehalten werden sollten, zu erhalten.
»Es interessiert mich natürlich zu erfahren, wie es weitergeht.«
»Wir haben leider alle keine Zeit, Einzelfragen zu beantworten. Wir werden hier von den Massenmedien belagert. Viele respektieren nicht einmal unsere Absperrungen. Gestern fanden wir sogar einen Mann mit einer Kamera in einem der Häuser. Bitte wenden Sie sich an Hudden, falls Sie in Hudiksvall anrufen.«
Vivi Sundberg klang ungeduldig und gereizt. Birgitta Roslin verstand sie. Sie erinnerte sich an Hugo Malmbergs Worte, dass er dankbar dafür war, sich nicht im Zentrum der Ermittlung zu befinden.
»Danke, dass Sie angerufen haben. Ich werde Sie nicht weiter stören.«
Das Gespräch war beendet. Birgitta Roslin dachte nach über das, was sie gesprochen hatten. Jetzt wusste sie ganz sicher, dass die Pflegeeltern ihrer Mutter unter den Toten waren. Sie und alle anderen würden sich gedulden müssen, während die Polizei arbeitete.
Sie überlegte, ob sie das Polizeipräsidium
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