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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Pfeife, die süßlich roch. »Das weiß man nie«, antwortete er. »Bestenfalls sieben Wochen, im schlimmsten Fall drei Monate. Wenn der Wind gegen uns ist. Wenn wir böse Geister an Bord haben.«
     
    San war nicht sicher, wie viel eine Woche war. Und ein Monat? So hatte er selbst nie zu rechnen gelernt. Im Dorf hatte man nach den Stunden des Tages und dem Gang der Jahreszeiten gelebt. Aber er hatte das Gefühl, der Seemann habe sagen wollen, dass die Reise lang werden würde.
     
    Das Schiff lag einige Tage still mit schlagenden Segeln. Die Seeleute waren gereizt und traten oft ohne Grund nach den angeketteten Männern. Guo Si erholte sich langsam, und hin und wieder fragte er sogar, was geschehen war.
     
    Jeden Morgen und Abend hielt San Ausschau nach Land. Aber da waren nur das unendliche Meer und einzelne Vögel, die das Schiff umkreisten und dann verschwanden. Für jeden Tag, der verging, ritzte er eine Kerbe in den Mast, an den er mit Guo Si gekettet war. Als er neunzehn Kerben gemacht hatte, schlug das Wetter um, und das Schiff geriet in einen schweren Sturm. Sie hingen die ganze Zeit während des Unwetters an dem Mast fest, obwohl große Wellen über ihnen zusammenbrachen. Die Kraft des Meeres war so gewaltig, dass San glaubte, das Schiff werde auseinanderbrechen. In den Tagen des Sturms bekamen sie nichts anderes zu essen als ein paar Stücke Schiffszwieback, mit dem sich ein Seemann, ein Tau um den Leib, zu ihnen durchschlug. Sie hörten die anderen, die unter Deck angekettet waren, schreien und brüllen.
     
    Der Sturm dauerte drei Tage, dann nahm der Wind ab, um schließlich ganz einzuschlafen. Sie lagen einen Tag und eine Nacht völlig still, dann kam ein Wind auf, der die Seeleute aufheiterte. Die Segel blähten sich, und die angeketteten Männer durften wieder durch die offene Ladeluke an Deck klettern.
     
    San war klar, dass sie größere Überlebenschancen hatten, wenn sie an Deck bleiben durften. Er sagte zu Guo Si, er solle so tun, als habe er ein wenig Fieber, wenn einer der Seeleute oder der weiße Kapitän kamen, um zu sehen, wie es ihm ging. Er selbst sagte, die Wunde, die sein Bruder an der Stirn habe, sei fast verheilt, aber noch nicht ganz.
     
    Einige Tage nach dem Sturm entdeckten die Seeleute einen blinden Passagier. Mit wütendem Geschrei zerrten sie ihn aus dem Winkel unter Deck, wo er sich versteckt hatte. Oben an Deck verwandelte sich die Wut in Staunen, als sich zeigte, dass es sich um eine junge Frau handelte, die sich als Mann verkleidet hatte. Wenn der Kapitän nicht eingegriffen und die Seeleute mit seiner Waffe in Schach gehalten hätte, wären sie allesamt über sie hergefallen. Er befahl, die Frau an den Mast der beiden Brüder zu fesseln. Wer sie belästigte, sollte für den Rest der Reise jeden Tag ausgepeitscht werden. Die Frau war sehr jung, gerade achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Erst am Abend, als es auf dem Schiff ruhig war und nur noch der Rudergänger, der Ausguck und ein paar Wachen an Deck waren, fragte San sie flüsternd nach ihrem Namen. Sie antwortete mit niedergeschlagenem Blick und kaum hörbarer Stimme. Ihr Name war Sun Na. Guo Si hatte unter einer alten Wolldecke gelegen, als es ihm schlechtging. San gab sie ihr ohne ein Wort. Sie legte sich hin und bedeckte ihren ganzen Körper und den Kopf.
     
    Am nächsten Tag kam der Kapitän mit einem Dolmetscher und fragte sie aus. Sie sprach einen Dialekt, der dem der Brüder sehr ähnlich war. Sie sprach so leise, dass sie kaum zu verstehen war. Immerhin verstand San, dass ihre Eltern gestorben waren und ein Verwandter gedroht hatte, sie einem gefürchteten Grundbesitzer zu geben, der seine jungen Frauen zu misshandeln pflegte. Da war Sun Na nach Kanton geflohen. Und dort hatte sie sich an Bord des Schiffes geschlichen, um nach Amerika zu gelangen, wo sie eine Schwester hatte.
     
    »Wir werden dich leben lassen«, sagte der Kapitän. »Ob du eine Schwester hast oder nicht, interessiert mich nicht. Aber in Amerika herrscht Mangel an chinesischen Frauen.« Er zog eine Silbermünze aus der Tasche und warf sie zwischen seinen Händen hin und her. »Du wirst der Extraverdienst dieser Reise für mich sein. Was das bedeutet, verstehst du sicher nicht. Das kann dir auch gleichgültig sein.« An diesem Abend stellte San ihr weitere Fragen. Von Zeit zu Zeit kam ein Seemann und betrachtete lüstern ihren Körper, den sie die ganze Zeit zu verbergen versuchte. Sie hatte sich die schmutzige Wolldecke über den Kopf gezogen

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