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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Tagebuch zu und legte es in eine Schublade, die er verschloss. Er zog die Handschuhe aus. Einer anderen Schreibtischschublade entnahm er einen dicken Umschlag. Dann drückte er auf den Lautsprecher. Frau Shen antwortete sofort.
     
    »Ist mein Gast gekommen?«
     
    »Er ist hier.«
     
    »Bitten Sie ihn herein.«
     
    Die Tür in der Wand öffnete sich. Der Mann, der den Raum betrat, war groß und mager. Er ging mit geschmeidigen Bewegungen über den dicken Teppich. Er verneigte sich vor Ya Ru.
     
    »Es ist Zeit, dass du abreist«, sagte Ya Ru. »Alles, was du brauchst, ist in diesem Umschlag. Ich möchte, dass du im Februar zurück bist, wenn wir unser Neujahr feiern. Der Anfang des westlichen neuen Jahres ist die beste Zeit für deinen Auftrag.«
     
    Ya Ru gab dem Mann den Umschlag. Er verneigte sich und nahm ihn entgegen.
     
    »Liu Xin«, sagte Ya Ru. »Dieser Auftrag ist wichtiger als alles andere, worum ich dich bisher gebeten habe. Er hat mit meinem eigenen Leben, mit meiner Familie zu tun.« 
    »Ich werde tun, worum du mich bittest.«
     
    »Das weiß ich. Aber wenn du scheiterst, darfst du nicht mehr zurückkommen. Sonst müsste ich dich töten.« 
    »Ich scheitere nicht.« Ya Ru nickte. Das Gespräch war beendet. Der Mann mit
     
    dem Namen Liu Xin verschwand durch die Tür, die sich leise wieder schloss.
     
    Zum letzten Mal an diesem Abend sprach Ya Ru mit Frau Shen. »Eben hat ein Mann mein Zimmer verlassen«, sagte YaRu.
     
    »Er war sehr schweigsam und freundlich.«
     
    »Aber er ist heute Abend nicht hier bei mir gewesen.« 
    »Natürlich nicht.«
     
    »Nur meine Schwester Hong ist hier gewesen.«
     
    »Ich habe niemand anderen eingelassen. Ich habe auch keinen anderen Namen als den von Hong Qiu im Kalender notiert.« »Sie können jetzt nach Hause gehen. Ich bleibe noch ein paar Stunden.«
     
    Ya Ru wusste, dass Frau Shen bleiben würde, bis er gegangen war. Sie hatte keine Familie, kein anderes Leben als ihre Arbeit für ihn. Sie wachte als sein Dämon vor der Tür. Ya Ru trat wieder ans Fenster und sah auf die schlafende Stadt hinunter. Es war jetzt weit über Mitternacht. Er fühlte sich gut. Es war ein guter Geburtstag gewesen. Auch wenn das Gespräch mit Hong Qiu nicht so verlaufen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Sie verstand nicht mehr, was in der Welt geschah. Sie weigerte sich, die neue Zeit zu sehen. Der Gedanke, dass sie sich immer weiter voneinander entfernten, machte ihn wehmütig. Aber es war eine Notwendigkeit. Für das Land. Irgendwann würde sie vielleicht doch verstehen. Das Wichtigste an diesem Abend war aber gewesen, dass alle Vorbereitungen, die schwierige Suche und die Dokumentation, abgeschlossen waren. Ya Ru hatte zehn Jahre gebraucht, um die Vergangenheit zu erforschen und einen Plan zu machen. Oft hätte er fast aufgegeben. Die lange Zeit, die vergangen war, hatte zu vieles verborgen. Aber wenn er in Wang Sans Tagebuch las, hatte er wieder die nötige Kraft gefunden. Die Wut, die San erfüllt hatte, war auf ihn übergegangen und in ihm ebenso lebendig wie damals, als alles geschehen war. Er hatte die Macht, zu tun, was San nicht vermocht hatte. Am Ende des Tagebuchs waren ein paar leere Seiten. Hier wollte Ya Ru das letzte Kapitel schreiben, wenn alles vorbei war. Er hatte seinen Geburtstag gewählt, um Liu Xin in die Welt auszusenden, damit er tat, was getan werden musste. Das gab ihm das Gefühl von Leichtigkeit.
     
    Ya Ru stand lange reglos am Fenster. Dann löschte er das Licht und ging durch einen Hintereingang zu seinem privaten Fahrstuhl.
     
    Als er in seinem Wagen saß, der in der unterirdischen Garage gewartet hatte, bat er den Chauffeur, am Tiananmen zu halten. Durch die getönten Scheiben konnte er den Platz sehen, der jetzt leer war, abgesehen von den immer gegenwärtigen Soldaten in ihren grünen Uniformen.
     
    Hier hatte Mao einst die Geburt der neuen Volksrepublik proklamiert. Ihn selbst hatte es damals noch nicht gegeben. Er dachte, die großen Ereignisse, die jetzt bevorstanden, würden nicht auf diesem Platz im Reich der Mitte öffentlich gemacht werden.
     
    Diese Welt würde in tiefstem Schweigen entstehen. Bis niemand mehr verhindern konnte, dass sie Wirklichkeit wurde.

DRITTER TEIL 
Das rote Band 
    (2006)
    Die Rebellen
    Überall, wo gekämpft wird, gibt es Opfer, und der Tod ist ein normaler Vorgang. Aber was uns am Herzen liegt,sind die Interessen des Volkes und die Leiden der großen Mehrheit, und wenn wir für das Volk sterben,

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