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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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nie. Sobald er es als Selbstverständlichkeit nahm, lief er Gefahr, Einfluss und Wohlstand zu verlieren. Er war als graue Eminenz ein Teil der Machtelite. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei, er hatte Verbindungen tief in die innersten Kreise, wo die wichtigsten Beschlüsse gefasst wurden. Er war ihr Berater und tastete sich mit seinen Fühlern vor, um zu erkunden, wo die Fallgruben waren und wo die sicheren Fahrwasser verliefen.
     
    Er war an diesem Tag achtunddreißig geworden, und er wusste, dass er sich mitten in der größten Umwälzung befand, die China seit der Kulturrevolution erlebt hatte. Früher ein nach innen gerichtetes Reich, sollte die Aufmerksamkeit jetzt nach außen gehen. Obwohl im Politbüro ein dramatischer Kampf stattfand, welchen Weg man einschlagen sollte, war Ya Ru ziemlich sicher, wie das Resultat ausfallen würde. Der Weg, den China eingeschlagen hatte, ließ sich nicht mehr ändern. Immer mehr Landsleuten ging es Tag für Tag ein wenig besser. Auch wenn sich die Kluft zwischen Stadtbewohnern und Bauern noch vergrößerte, sickerte ein Teil des Wohlstands doch bis zu den Allerärmsten durch. Es wäre Wahnsinn zu versuchen, diese Entwicklung in eine Richtung zu lenken, die an die Vergangenheit erinnerte. Deshalb musste die Jagd auf ausländische Märkte und Rohwaren immer schärfer werden.
     
    Er sah die Spiegelung seines Gesichts in der großen Panoramascheibe. Genauso wie er hatte vielleicht Wang San ausgesehen.
     
    Über hundertfünfunddreißig Jahre sind vergangen, dachte Ya Ru. San hätte sich das Leben, das ich heute lebe, nicht vorstellen können. Aber ich sehe das Leben, das er gelebt hat, und kann den gewaltigen Zorn verstehen, der ihn durchdrungen hat. Er hat sein Tagebuch geschrieben, damit seine Nachkommen nicht das Unrecht vergessen, dem er, seine Eltern und seine Brüder ausgesetzt waren.
     
    Ya Ru sah wieder auf die Uhr und unterbrach seinen Gedankengang. Obwohl noch keine halbe Stunde vergangen war, ging er an den Schreibtisch und drückte auf den Knopf, als Mitteilung, dass sein erster Besuch hereinkommen konnte. Eine unsichtbare Tür in der Wand ging auf. Seine Schwester Hong Qiu kam herein. Sie war sehr schön. Er hatte wirklich eine strahlende Schönheit zur Schwester. Sie gingen mitten im Raum aufeinander zu und küssten sich auf die Wange. »Kleiner Bruder«, sagte sie. »Jetzt bist du ein bisschen älter als gestern. Irgendwann holst du mich ein.« 
    »Nein«, antwortete Ya Ru. »Das nicht. Aber niemand weiß, wer am Ende den anderen begräbt.« »Warum sprichst du jetzt davon? An deinem Geburtstag?«
     
    »Der Kluge weiß, dass der Tod immer in seiner Nähe ist.« Er führte sie zu einer Sitzgruppe am anderen Ende des großen Raums. Da sie keinen Alkohol trank, servierte er Tee aus einer vergoldeten Kanne. Er selbst trank weiterhin Wasser. Hong Qiu sah ihn mit einem Lächeln an. Dann wurde sie plötzlich ernst. »Ich habe ein Geschenk für dich. Aber erst will ich wissen, ob das Gerücht wahr ist, von dem ich gehört habe.«
     
    Ya Ru warf die Hände in die Höhe. »Ich bin von Gerüchten umgeben. Wie alle Männer und alle Frauen in hohen Positionen. Wie du, liebe Schwester.«
     
    »Ich möchte nur wissen, ob es wahr ist, dass du deinen größten Baukontrakt durch Bestechung erlangt hast.« Hong Qiu setzte die Teetasse hart auf den Tisch. »Verstehst du, was das bedeutet? Bestechung?«
     
    Ya Ru war seiner Schwester plötzlich überdrüssig. Er hatte oft Spaß an ihren Gesprächen, da sie intelligent war und scharf formulieren konnte. Es machte ihm auch Vergnügen, seine eigenen Argumente zu schärfen, indem er mit ihr diskutierte. Sie vertrat eine altmodische Auffassung und huldigte Idealen, die nichts mehr bedeuteten. Solidarität war eine Handelsware wie alles andere auch. Der klassische Kommunismus hatte die Belastungen einer Wirklichkeit nicht überlebt, auf die sich die alten Theoretiker nicht verstanden hatten. Dass Karl Marx weitgehend recht gehabt hatte, was die fundamentale Bedeutung der Ökonomie für die Politik betraf, oder dass Mao bewiesen hatte, dass sich auch arme Bauern aus ihrem Elend erheben können, bedeutete nicht, dass man die großen Herausforderungen, die jetzt vor China lagen, durch eine unkritische Anwendung der klassischen Methoden bewältigen konnte.
     
    Hong Qiu ritt rückwärts auf ihrem Pferd in die Zukunft. Ya Ru wusste, dass sie scheitern würde.
     
    »Feinde werden wir niemals werden«, sagte er. »Unsere Familie

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