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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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stand an der Spitze, als sich unser Volk aus dem Verfall erhob. "Wir sind nur unterschiedlicher Auffassung, welche Methoden anzuwenden sind. Natürlich besteche ich niemanden, ebenso wenig, wie ich mich bestechen lasse.« »Du denkst nur an dich selbst. An sonst niemanden. Ich kann nicht glauben, dass du die Wahrheit sagst.«
     
    Ya Ru verlor ausnahmsweise die Fassung. »Was hast du vor sechzehn Jahren gedacht, als du dazu applaudiert hast, dass die alten Kerle in der Parteiführung Panzer auf die Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens losließen? Was hast du da gedacht? Hast du nicht verstanden, dass ich dort hätte stehen können? Ich war damals zweiundzwanzig.« 
    »Unser Eingreifen war notwendig. Die Stabilität des ganzen Landes war bedroht.«
     
    »Von ein paar tausend Studenten? Jetzt sagst du nicht die Wahrheit, Hong Qiu. Ihr hattet vor etwas ganz anderem Angst.«
     
    »Wovor denn?«
     
    Ya Ru beugte sich zu seiner Schwester vor und flüsterte. »Vor den Bauern. Ihr hattet Angst, sie würden sich auf die Seite der Studenten stellen. Anstatt in neuen Bahnen für die Zukunft dieses Landes zu denken, habt ihr zu den Waffen gegriffen. Statt ein Problem zu lösen, habt ihr versucht, es zu verhüllen.«
     
    Hong Qiu antwortete nicht. Sie sah ihren Bruder fest an. Ya Ru dachte daran, dass sie beide aus einer Familie kamen, in der man es noch vor einigen Generationen niemals gewagt hätte, einem Mandarin in die Augen zu sehen.
     
    »Einem Wolf lächelt man nicht zu«, sagte Hong Qiu. »Der Wolf könnte denken, dass du kämpfen willst.«
     
    Sie stand auf und legte ein Paket, um das ein rotes Band geschlungen war, auf den Tisch. »Ich habe Angst, wohin dein Weg dich führt, kleiner Bruder. Ich werde alles tun, was ich kann, damit Leute wie du dieses Land nicht in ein Land verwandeln, für das wir uns schämen werden.«
     
    »Ich frage mich, wer jetzt der Wolf ist«, sagte Ya Ru. Er versuchte, seine Schwester auf die Wange zu küssen. Aber sie wandte das Gesicht ab, drehte sich um und ging. Vor der Wand blieb sie stehen. Ya Ru ging zum Schreibtisch und drückte auf den Knopf, mit dem die Tür geöffnet wurde. Als sie sich wieder geschlossen hatte, beugte er sich über die Sprechanlage. »Ich erwarte noch einen Besucher.« »Soll ich seinen Namen notieren?« fragte Frau Shen. »Er hat keinen Namen«, sagte Ya Ru. »Informieren Sie mich nur, wenn er gekommen ist.«
     
    Er kehrte an den Tisch zurück und öffnete das Paket, das Hong Qiu hinterlassen hatte. Es enthielt eine kleine Schachtel aus Jade. Darin lagen eine weiße Feder und ein Stein. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie Geschenke austauschten, die Rätsel oder verborgene Botschaften enthielten. Er verstand sofort, was sie meinte. Es verwies auf ein Gedicht von Mao. Die Feder stand für das Leben, das weggeworfen wurde, der Stein für ein Leben und einen Tod, der etwas bedeutete.
     
    Meine Schwester warnt mich, dachte Ya Ru. Oder sie ermahnt mich. Für welchen Weg soll ich mich in meinem Leben entscheiden?
     
    Er lächelte über ihr Geschenk und beschloss, ihr zu ihrem nächsten Geburtstag einen schönen Wolf aus Elfenbein schnitzen zu lassen.
     
    Ihre Hartnäckigkeit konnte ihm Respekt einflößen. Was Charakter und Willen betraf, war sie wirklich seine Schwester. Sie würde ihn weiter bekämpfen, ihn und diejenigen in der Führung des Landes, die einen Weg gingen, den sie verurteilte. Aber sie war im Irrtum, sie und alle diejenigen, die eine Entwicklung ablehnten, durch die China wieder zum mächtigsten Land der Welt würde.
     
    Ya Ru setzte sich an den Schreibtisch und schaltete die Lampe an. Er zog vorsichtig ein Paar dünne weiße Handschuhe aus Baumwolle über. Dann blätterte er wieder in dem Buch, das Wang San geschrieben hatte und das durch die Generationen der Familie gewandert war. Auch Hong Qiu hatte es gelesen, aber es hatte sie nicht so beeindruckt wie ihn. Ya Ru schlug die letzte Seite des Tagebuchs auf. Wang San ist dreiundachtzig Jahre alt geworden. Er ist sehr krank und wird bald sterben. Die letzten Worte in seinem Tagebuch handeln von seiner Angst, sterben zu müssen, ohne alles getan zu haben, was er seinen Brüdern versprochen hat. »Ich sterbe zu früh«, schreibt er. »Auch wenn ich leben würde, bis ich tausend Jahre alt bin, sterbe ich zu früh, weil es mir nicht gelungen ist, die Ehre unserer Familie wiederherzustellen. Ich habe getan, was ich konnte, aber es hat nicht ausgereicht.«
     
    Ya Ru klappte das

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