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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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einen geschickten Buchbinder mit einem neuen Einband zu beauftragen, ehe das Buch zerfiel. Aber er hatte sich entschlossen, es so zu lassen, wie es war. Trotz des zerfallenen Einbands und der porösen und dünnen Seiten hatte der Inhalt in all den Jahren, seit es geschrieben worden war, nicht gelitten.
     
    Er schob das Buch vorsichtig zur Seite und betätigte einen Knopf unter dem Schreibtisch. Mit einem leisen Surren hob sich ein Bildschirm aus der Tischplatte. Er tippte einige Zeichen ein und sah seinen Stammbaum auf dem leuchtenden Bildschirm erscheinen. Es hatte ihn eine Menge Zeit und Geld gekostet, bis er dieses Bild mit dem Stamm und all den Zweigen zusammensetzen konnte, die seine Familie bildeten, zumindest die Teile, deren er sicher war. In der blutigen und gewaltsamen Geschichte Chinas waren nicht nur große Kulturschätze zugrunde gegangen. Erschreckender war noch, dass so viele Archive zerstört worden waren. Es gab Leerstellen in diesem Baum, die er nie würde füllen können. Aber die wichtigsten Namen waren verzeichnet. Und vor allem der Name des Mannes, der dieses Tagebuch geschrieben hatte.
     
    Ya Ru hatte das Haus gesucht, in dem seine Vorfahren beim Licht ihrer Kerzen gesessen hatten. Aber davon war nichts mehr übrig. Wo Wang San gelebt hatte, erstreckte sich jetzt ein Netz von Autostraßen.
     
    In seinem Tagebuch hatte San geschrieben, seine Worte seien dem Wind und seinen Kindern gewidmet. Was er damit meinte, dass der Wind lesen sollte, hatte Ya Ru nie verstanden. Vermutlich war San in der Tiefe seines Herzens ein Romantiker gewesen, trotz des brutalen Lebens, das er zu leben gezwungen war, und des Bedürfnisses nach Rache, das ihn nie verlassen hatte. Aber die Kinder gab es, unter ihnen einen Sohn namens Guo Si, geboren 1882. Er war einer der ersten Führer der Kommunistischen Partei gewesen und von den Japanern während ihres Krieges gegen China getötet worden.
     
    Oft dachte Ya Ru, das Tagebuch, das San geschrieben hatte, sei genau für ihn bestimmt. Obwohl mehr als ein Jahrhundert zwischen seiner Entstehung und diesem Abend lag, war es, als würde San direkt zu ihm sprechen. Der Hass, den sein Vorfahre damals empfunden hatte, lebte in ihm weiter. Erst San, dann Guo Si - und jetzt, am Ende, er selbst.
     
    Es gab ein Foto von Guo Si, Mitte der 1930er Jahre. Er steht mit einigen Männern in einer Berglandschaft. Ya Ru hatte es in seinen Computer eingescannt. Wenn er das Bild betrachtete, meinte er, Guo Si sehr ähnlich zu sein. Er stand direkt hinter dem lächelnden Mann mit der Warze auf der Wange. Wie nah er der absoluten Macht war, dachte Ya Ru. So nahe bin auch ich, sein Verwandter, in meinem Leben der Macht gekommen.
     
    Die Sprechanlage auf seinem Tisch surrte leise. Frau Shen gab ihm ein diskretes Zeichen, dass der erste Besuch angekommen war. Aber er gedachte, sie warten zu lassen. Vor langer Zeit hatte er von einem politischen Führer gelesen, der seine politischen Freunde oder Feinde mittels der Zeit eingestuft hatte, die sie warten mussten, bis sie vorgelassen wurden. Sie konnten ihre Wartezeiten miteinander vergleichen und sehen, wie nahe oder wie weit entfernt sie sich von der Gunst des Führers befanden.
     
    Ya Ru schaltete den Computer aus und ließ ihn mit dem gleichen schwachen Surren in der Tischplatte verschwinden. Aus einer Karaffe auf dem Tisch goss er Wasser in ein Glas. Es kam aus Italien und wurde speziell für ihn von einem Unternehmen hergestellt, an dem er durch eine seiner vielen Scheinfirmen beteiligt war.
     
    Wasser und Öl, dachte er. Ich umgebe mich mit Flüssigkeiten. Heute Öl, morgen vielleicht Wasserrechte für Flüsse und Seen.
     
    Er trat wieder ans Fenster. Es war die Zeit in der Nacht, in der viele Lichter verloschen. Bald würden nur noch die Lichter der Straßen und öffentlichen Gebäude die Stadt erleuchten.
     
    Er sah hinüber zu der Gegend, in der die Verbotene Stadt lag. Es gefiel ihm, dort seine Freunde zu besuchen, deren Geld er verwaltete und vermehrte. Heute stand der Thron des Kaisers leer. Aber die Macht befand sich noch immer innerhalb der Mauern der uralten Kaiserstadt. Deng hatte einmal gesagt, die alten Kaiserdynastien würden die chinesische Kommunistische Partei um ihre Macht beneidet haben. In keinem Land der Welt gab es eine ähnliche Machtbasis. Jeder fünfte Mensch, der jetzt lebte, war abhängig von den Entscheidungen dieser kaisergleichen Führer.
     
    Ya Ru wusste, dass er vom Glück begünstigt war. Er vergaß es

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