Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
schlich darauf bis zum Haupttor. Er hörte die Wachtposten reden, als er das breite, geschwungene Dach überquerte, doch sie bemerkten ihn nicht. Er lief über die Brücke, machte sich am anderen Ufer wieder sichtbar und ging raschen Schrittes in das Labyrinth der dahinterliegenden StraÃen.
Er kannte das Haus, in dem sich Taku aufhielt: die alte Residenz der Muto. Früher hatte er in Maruyama jedes Haus des Stammes gekannt, seine Lage, GröÃe und Bewohner. Die Art, auf die er dieses Wissen eingesetzt hatte, als er Maruyama zum ersten Mal gemeinsam mit Kaede besucht hatte, bereute er immer noch tief. Entschlossen, dem Stamm seine Gnadenlosigkeit zu demonstrieren,hatte er dessen Angehörige verfolgt und die meisten hinrichten lassen. Er hatte geglaubt, man könnte des Bösen nur Herr werden, indem man es auslöschte, aber inzwischen wusste er, dass es besser war zu verhandeln und kein Blut zu vergieÃen, vorausgesetzt, man hatte die Zeit dazu ⦠Vor dieses Dilemma sah er sich immer noch gestellt: Hätte er damals Schwäche gezeigt, dann wäre er jetzt nicht stark genug, um seinen Willen durch Mitgefühl durchzusetzen. Dafür mochte ihn der Stamm hassen, aber immerhin verachtete man ihn nicht dafür. Er hatte sich genug Zeit erkauft, um sein Land zu sichern.
Wie immer blieb er vor dem Schrein am Ende der StraÃe stehen, legte die Weinkrüge vor dem Gott der Mutofamilie ab und bat die Geister der Toten um Vergebung.
Muto Kenji hat mir vergeben , erzählte er ihnen, und ich habe ihm vergeben. Wir wurden enge Freunde und Verbündete. Ich hoffe, das gilt auch für euch .
Nichts störte die Stille der Nacht, doch er spürte, dass er nicht allein war. Er wich in die Schatten zurück, die Hand am Griff seines Schwertes. Er hörte ein leises Rascheln, als schliche ein Geschöpf über das von den Bäumen gefallene Laub. Als er in die Richtung spähte, aus der das Geräusch kam, sah er, wie die Blätter von unsichtbaren Schritten bewegt wurden. Er beschattete die Augen mit den Händen, damit sich die Pupillen vergröÃerten, und schaute dann aus dem linken Augenwinkel, um herauszufinden, ob sich jemand unsichtbar gemacht hatte. Das Geschöpf starrte ihn aus Augen an, die grün im Sternenlicht schimmerten.
Nur eine Katze , dachte er, das Licht spielt mir einen Streich  â doch dann merkte er mit Erschrecken, dass sein Blick unter dem Bann des Blickes der Katze stand. Nackte Angst packte ihn. Es war ein Gespenst, irgendein Geisterwesen, das hier hauste und von den Toten geschickt worden war, um ihn zu bestrafen. Er spürte, er war kurz davor, dem Kikutaschlaf zu erliegen, glaubte schon, ihre Attentäter hätten ihn aufgespürt und benutzten dieses Geisterwesen, um ihn in die Enge zu treiben. Auf einmal befand er sich in dem fast übernatürlichen Zustand, in den ihn jeder Angriff brachte, egal welcher Art. Sein Impuls bestand darin, sich sofort zu verteidigen, zu töten, bevor man ihn tötete. Er sammelte all seine Kräfte, brach den Bann des Katzenblickes und tastete nach den Wurfmessern. Er schleuderte das erste, das er zu fassen bekam, sah, wie es im Flug im Sternenlicht glitzerte, hörte den leisen Aufprall und den Aufschrei des Geschöpfes. Als es auf ihn zusprang, verlor es seine Unsichtbarkeit.
Nun hatte er das Schwert in der Hand. Er sah die gelbbraune Kehle und die gebleckten Zähne des Geschöpfes. Es war eine Katze, doch sie hatte die GröÃe und Stärke eines Wolfes. Als er sich duckte und auswich, erwischten ihn die Krallen einer Tatze im Gesicht. Er fuhr herum, um dem Tier in die Kehle zu stechen, und gab die Unsichtbarkeit auf, damit er sich voll auf den Hieb konzentrieren konnte.
Doch die Katze entwischte ihm. Sie schrie mit fast menschlicher Stimme, und aus Erschrecken und Angst hörte Takeo etwas Bekanntes heraus.
»Vater«, schrie das Wesen noch einmal. »Tu mir nicht weh! Ich bin es, Maya.«
Das Mädchen stand vor ihm. Er musste alle Kraft und allen Willen zusammennehmen, um den Stoà zu bremsen, mit dem er seiner Tochter fast die Kehle durchtrennt hätte. Ein verzweifelter Schrei entfuhr ihm, als er sich zwang, das Messer zu senken. Es fiel ihm aus der Hand. Er berührte Maya am Gesicht, spürte die Feuchtigkeit von Blut oder Tränen oder beidem.
»Um ein Haar hätte ich dich getötet«, sagte er und fragte sich mit einer Mischung aus Erschrecken
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