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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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ihm standen die Ältesten des Clans, sie hielten lackierte Kisten und trugen schwere, mit Gold geschmückte Gewänder und schwarze Hüte. Die Kisten enthielten die Schätze der Domäne und die Schriftrollen mit Stammbäumen, die Shigekos Herkunft von der weiblichen Linie Maruyamas zurückverfolgten.
    Kaede sollte hier sein , dachte Takeo voller Bedauern. Er sehnte sich nach einem Wiedersehen mit ihr, stellte sich vor, wie er ihr die Szene schilderte, malte sich die Rundung ihres Bauches aus, in dem ihr Kind heranwuchs.  
    Takeo war nicht an der Planung der Zeremonie beteiligt gewesen – das war ganz allein Hiroshis Aufgabe gewesen, denn es handelte sich um ein uraltes Ritual Maruyamas, das nicht mehr vollzogen worden war, seit Lady Naomi die Domäne geerbt hatte. Er ließ den Blick über die Versammelten schweifen, fragte sich, wo Shigeko war und wann sie erschiene. Zwischen den Menschen in den Kähnen entdeckte er plötzlich Taku, der, anders als sein Bruder, keine feierlichen Gewänder, sondern die verblichenen Kleider eines ganz gewöhnlichen Kaufmannes trug. Neben ihm standen ein großer junger Mann und ein Junge, der Takeo irgendwie bekannt vorkam. Es dauerte einige Augenblicke, bis er begriff, um wen es sich handelte. Es war seine Tochter Maya.
    Er war erstaunt – weil Taku sie in Verkleidung mitgenommen und weil er sie anfangs nicht erkannt hatte –, und gleich danach spürte er tiefe Erleichterung, dass sie lebte und allem Anschein nach unversehrt war. Sie wirkte dünner, ein wenig größer, die Augen waren auffälliger in ihrem spitzen Gesicht. Der junge Mann musste dann wohl Sada sein. Ihre Verkleidung war absolut perfekt. Offenbar hatte Taku Maya nicht allein zurücklassen wollen, denn sonst wäre er in seiner normalen Kleidung erschienen. Welche Botschaft hatte er zu überbringen? Er musste die drei sprechen. Heute Abend würde er zu ihnen gehen.
    Hufgeklapper lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Zeremonie. Aus der westlichen Ecke des Schlosshofes kam eine kleine Prozession berittener Frauen. Es waren die Frauen und Töchter der Ältesten, die hinter Hiroshi warteten. Sie waren auf die Art der Frauen des Westens bewaffnet, mit einem Bogen über der Schulter und einem Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Takeo bewunderte die Pferde Maruyamas, die so groß und ansehnlich waren, und das Herz ging ihm noch weiter auf, als er mitten unter ihnen seine Tochter auf dem schönsten der Pferde erblickte – dem Rappen, den sie selbst zugeritten und dem sie den Namen Tenba gegeben hatte.
    Das Pferd war übernervös und scheute ein wenig, und als Shigeko die Zügel straff zog, warf es den Kopf hin und her und bäumte sich auf. Shigeko saß so reglos da, als wäre auch sie eine Statue. Ihr lose zurückgebundenes Haar war so schwarz wie Mähne und Schweif des Pferdes und glänzte wie dessen Fell in der Herbstsonne. Tenba beruhigte und entspannte sich.
    Die berittenen Frauen stellten sich den Männern gegenüber, und im gleichen Moment fielen alle Ältesten auf die Knie, boten die Kisten dar und verneigten sich tief.
    Hiroshi sprach mit lauter Stimme: »Lady Maruyama Shigeko, Tochter von Shirakawa Kaede und Cousine zweiten Grades von Maruyama Naomi, wir heißen Sie auf der Domäne willkommen, die wir getreulich für Sie verwaltet haben.«
    Er zog die Füße aus den Steigbügeln und glitt vom Pferd, zog sein Schwert aus dem Gürtel, fiel vor Shigekoauf die Knie und streckte es ihr mit beiden Händen entgegen.
    Die plötzliche Bewegung des Mannes ließ Tenba scheuen und Takeo sah, wie Hiroshis Gefasstheit einer Beunruhigung wich. Er spürte, dies war weit mehr als die Sorge eines Vasallen um seine Herrin. Er erinnerte sich daran, wie die beiden wochenlang gemeinsam das Pferd zugeritten hatten. Sein Verdacht bestätigte sich. Die Gefühle seiner Tochter kannte er nicht, doch an jenen Hiroshis gab es keinen Zweifel. Sie waren so offensichtlich, dass er kaum glauben konnte, sie nicht schon längst bemerkt zu haben. Er schwankte zwischen Verärgerung und Mitleid – er konnte Hiroshi unmöglich geben, was dieser wollte –, bewunderte aber die Selbstbeherrschung und Hingabe des jungen Mannes. Es liegt daran, dass sie gemeinsam groß geworden sind , dachte er. Sie schätzt ihn wie einen Bruder, doch ihr Herz ist unberührt . Trotzdem behielt er seine

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