Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Tochter genau im Auge, als zwei der Frauen vom Pferd stiegen und Tenbas Zügel ergriffen. Shigeko glitt anmutig aus dem Sattel und trat vor Hiroshi. Als er zu ihr aufsah, begegneten sich ihre Blicke. Sie lächelte ihn unmerklich an und nahm das Schwert aus seinen Händen entgegen. Dann wandte sie sich um und hielt es abwechselnd in jede Richtung, verneigte sich über der Klinge vor der Menge, ihren Vasallen, ihrem Volk.
Ein lauter Ruf erscholl, als sprächen alle Anwesenden mit einer Stimme, und löste sich dann in Jubelschreie auf wie eine Welle, die auf den Kiesstrand schlägt. Die Pferde tänzelten vor Nervosität. Shigeko schob sich dasSchwert schwungvoll hinter den Gürtel und stieg wieder auf ihr Pferd. Die anderen Frauen taten es ihr gleich. Die Pferde galoppierten um den Schlosshof, formierten sich in einer Reihe und ritten auf die Zielscheiben zu. Jede Reiterin lieà die Zügel auf den Hals des Pferdes fallen, nahm den Bogen, legte einen Pfeil an und spannte, alles mit einer einzigen flieÃenden Bewegung. Ein Pfeil nach dem anderen wurde abgeschossen und traf mit dumpfem Laut sein Ziel. Am Ende ritt Shigeko, der Rappe flog dahin wie der Wind, wie ein himmlisches Ross, und der Pfeil traf ins Ziel. Shigeko wendete das Pferd, galoppierte zurück und brachte es vor Takeo zum Halten. Sie sprang von Tenbas Rücken und sagte mit lauter Stimme: »Die Maruyama schwören den Otori Treue und Gefolgschaft, und als Zeichen hierfür will ich dieses Pferd Lord Takeo, meinem Vater, schenken.« Sie hielt ihm den Zügel hin und neigte den Kopf.
Wieder erscholl der Ruf der Menge wie aus einer Kehle, als Takeo aufstand und vom Podest trat. Er ging zu Shigeko und nahm den Zügel des Pferdes entgegen, so tief bewegt, dass ihm die Worte fehlten. Das Pferd lieà den Kopf sinken und rieb sich an seiner Schulter. Es stammte offensichtlich von Shigerus Pferd Kyu und von Aoi ab, der von dem Unhold Jin-emon tödlich verletzt worden war. Takeo hatte das Gefühl, von der Vergangenheit umgeben zu sein, von den Geistern der Toten, die ihn zustimmend ansahen, und er war stolz und dankbar, weil es Kaede und ihm gelungen war, dieses wunderbare Mädchen groÃzuziehen, das nun als erwachsene Frau ihr Erbe antrat.
»Ich hoffe, er wird dir so ans Herz wachsen wie Shun«, sagte sie.
»Ein schöneres Pferd habe ich noch nie gesehen â es scheint zu fliegen, wenn es galoppiert.« Er sehnte sich schon danach, die Kraft des Pferdes unter sich zu spüren und das starke, geheimnisvolle Band zwischen zwei Geschöpfen zu knüpfen. Er wird mich überleben , dachte er voller Freude.
»Willst du ihn nicht reiten?«
»Dafür trage ich die falschen Kleider«, sagte Takeo. »Ich führe ihn zurück und wir reiten später aus. Erst einmal möchte ich dir aus tiefstem Herzen danken. Du hättest mir kein schöneres Geschenk machen können.«
Gegen Ende des Nachmittags ritten sie über die Küstenebene auf die im Westen untergehende Sonne und auf die Mündung des Flusses zu. Die Reiterschar bestand nicht nur aus Takeo, Shigeko und Hiroshi â obwohl diese lieber unter sich geblieben wären â, sondern auch aus Lord Kono, Zenko und Hana. Zenko verkündete, er habe genug von Festmahlen und Zeremonien und müsse seinen Kopf durch einen ordentlichen Galopp auslüften. Hana wollte ihre Falken fliegen lassen und Kono gestand, ihre Leidenschaft für die Falkenjagd zu teilen. Ihr Weg führte sie am Dorf der AusgestoÃenen vorbei, das Takeo vor langer Zeit und noch zu Lebzeiten Jo-Ans gegründet hatte. Die AusgestoÃenen gerbten dort immer noch Felle und wurden daher gemieden, doch da sie unter dem Schutz der Gesetze der Drei Länder standen, lieà man sie in Ruhe. Nun arbeiteten die Söhne derMänner, die jene Brücke gebaut hatten, über die Takeo der Armee der Otori hatte entkommen können, Seite an Seite mit ihren Vätern und Onkeln. Die jungen Menschen wirkten genauso wohlgenährt und gesund wie die alten.
Takeo, Shigeko und Hiroshi hielten an, um den Vorsteher des Dorfes zu begrüÃen, während die anderen weiterritten. Als sie die Jagdgesellschaft wieder einholten, waren die Falken schon losgelassen worden und standen über dem hohen Gras, das sich im Wind wellte wie das Meer und dessen Rispen im letzten Licht der Sonne glänzten.
Takeo hatte sich schon ein wenig an sein neues Pferd gewöhnt
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