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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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und Mitleid, ob man sie töten konnte. Er merkte, dass er Tränen in den Augen hatte, und als er sie mit einem Ärmel abwischen wollte, spürte er den stechenden Schmerz der Kratzwunde und das Blut, das ihm vom Gesicht tropfte. »Was treibst du hier? Warum bist du allein draußen unterwegs?« Er empfand es fast als Erleichterung, seiner Verwirrung durch Wut Luft machen zu können. Am liebsten hätte er seiner Tochter eine Ohrfeige gegeben wie früher, wenn sie als Kind Unsinn gemacht hatte, aber nach dem, was ihr widerfahren war, hatte sie mit ihrer Kindheit abgeschlossen. Außerdem lag es an seinem Blut, dass sie war, wie sie war.
    Â»Es tut mir leid, es tut mir leid.« Sie weinte wie ein Kind, war so aufgelöst, dass sie nur stammeln konnte. Er nahm sie in die Arme, drückte sie fest an sich und war überrascht, wie sehr sie gewachsen war. Ihr Kopf reichte ihm bis zur Mitte der Brust, ihr schlanker, fester Körper glich dem eines Jungen.
    Â»Nicht weinen«, sagte er mit gezwungener Ruhe.»Wir gehen jetzt zu Taku, und er wird mir erzählen, was mit dir los war.«
    Â»Tut mir leid, dass ich heule«, sagte sie dumpf.
    Â»Eigentlich sollte es dir leidtun, dass du versucht hast, deinen Vater zu töten«, erwiderte er und führte sie an der Hand durch das Tor des Schreins auf die Straße.
    Â»Ich habe dich nicht erkannt. Ich konnte dich nicht sehen. Ich dachte, du wärst ein Attentäter der Kikuta. Als ich dich erkannt habe, habe ich sofort meine Gestalt geändert. Das schaffe ich nicht immer gleich, doch es gelingt mir immer besser. Aber ich hätte nicht zu weinen brauchen. Ich weine nie . Warum habe ich nur geweint?«
    Â»Vielleicht warst du froh, mich zu sehen?«
    Â»Darüber bin ich froh«, versicherte sie ihm. »Aber ich habe nie vor Freude geweint. Wahrscheinlich war es der Schock. Ich werde nie wieder weinen!«
    Â»Man darf ruhig weinen«, sagte Takeo. »Ich habe auch geweint.«
    Â»Warum? Habe ich dich verletzt? Aber verglichen mit deinen alten Wunden kann es nicht so schlimm sein.« Sie befühlte ihr Gesicht. »Du hast mich schlimmer verletzt.«
    Â»Das tut mir aufrichtig leid. Ich würde lieber sterben, als dir wehzutun.«
    Sie hat sich verändert , dachte er. Sogar ihre Sprache ist abrupter und gefühlloser geworden . Hinter ihren Worten verbarg sich eine Anklage, irgendetwas, das schwerer wog als die körperliche Wunde. Welchen Groll hegte sie gegen ihn? War sie wütend, weil man sie weggeschickt hatte, oder lag es an etwas anderem?
    Â»Du solltest dich besser nicht allein draußen herumtreiben.«
    Â»Das ist nicht Takus Schuld«, beeilte sich Maya zu erwidern. »Mach ihm bitte keinen Vorwurf.«
    Â»Wem sollte ich sonst Vorwürfe machen? Ich habe dich ihm anvertraut. Und wo ist Sada? Ich habe euch heute schon zu dritt gesehen. Warum begleitet sie dich nicht?«
    Â»War es nicht schön?«, sagte Maya ausweichend. »Shigeko sah so wunderbar aus. Und das Pferd! Hat dir das Geschenk gefallen, Vater? Warst du überrascht?«
    Â»Entweder sie sind nachlässig oder du bist ungehorsam«, sagte Takeo, der sich nicht von ihrem kindlichen Gerede beirren ließ.
    Â»Ich war ungehorsam. Aber ich kann nicht anders. Ich habe diese Fähigkeit, und weil sie so einzigartig ist, kann mich niemand darin unterrichten. Ich muss sie selbst ausprobieren.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Du besitzt diese Fähigkeit nicht, oder?«
    Wieder hatte er das Gefühl, als forderte sie ihn mit einem gewissen Nachdruck heraus. Sie hatte Recht, doch er beschloss, nicht zu antworten, zumal er nun, dicht vor dem Tor der Mutoresidenz, überlegte, wie er hineingelangen sollte. Sein Gesicht brannte und sein Körper schmerzte durch den überraschenden, heftigen Kampf. Mayas Wunde konnte er nicht richtig erkennen, sah aber die aufgerissenen Wundränder. Sie musste sofort behandelt werden, sonst behielte sie eine Narbe zurück, an der sie immer zu erkennen wäre.
    Â»Kann man der Familie hier vertrauen?«, flüsterte er.
    Â»Das habe ich mich nie gefragt!«, antwortete Maya. »Sie sind Muto, Verwandte von Taku und Sada. Da wird man ihnen doch vertrauen können, oder?«
    Â»Das werden wir bald herausfinden«, murmelte Takeo, pochte an das verschlossene Tor und rief nach den Wachen. Hunde begannen laut zu kläffen.
    Es dauerte ein bisschen, bis sie das Tor

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