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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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verachteten, beide aber ihre Fähigkeiten brauchten und von ihr abhängig waren, und dass einer ihren Körper begehrte. Dieses Verhältnis empfand sie als seltsam und unnatürlich, zumal es Manipulation, ja sogar Ausbeutung auf beiden Seiten bedeutete. Kaede merkte, wie neugierig sie auf Madarens Vergangenheit war und hätte gern gewusst, auf welch verschlungenen Wegen sie bis an diesen Ort gelangt war. Wenn sie unter vier Augen waren, verkniff sie sich oft die Frage, woran sie sich erinnerte und wie Takeo als Kind gewesen war. Denn die Nähe, die solche Fragen herstellen würden, fand sie zu bedrohlich.
    Der Winter kam. Der elfte Monat brachte schwere Fröste mit sich, und trotz der gesteppten Kleider und Kohlenbecken war es schwierig, warm zu bleiben. Kaede wagte es nicht mehr, gemeinsam mit Shizuka zu trainieren, denn die Erinnerung an ihre Fehlgeburt verfolgte sie und sie hatte große Angst, das Kind zu verlieren. Inihre Pelzdecken gehüllt, blieb ihr kaum etwas anderes zu tun, als zu lernen und sich mit Madaren zu unterhalten.
    Kurz vor dem Vollmond des elften Monats trafen Briefe aus Yamagata ein. Sie war mit Madaren allein, weil Shizuka mit den Jungen zum Kirin gegangen war. Sie murmelte eine Entschuldigung für die Unterbrechung des Unterrichts und ging sofort in ihr eigenes Studierzimmer – den Raum, in dem Ichiro früher gelesen und geschrieben hatte –, um dort die Briefe zu lesen. Takeo hatte ausführlich geschrieben – oder besser, diktiert, denn sie kannte Minorus Handschrift – und informierte sie über alle Beschlüsse, die getroffen worden waren. Hinsichtlich des Besuches in der Hauptstadt gab es noch viel mit Kahei und Gemba zu besprechen, und Takeo wartete auf den Bericht Sonodas über den Empfang der Botschafter. Er fühlte sich verpflichtet, Neujahr dort zu verbringen.
    Kaede war tief enttäuscht. Sie hatte gehofft, dass Takeo zurückkehrte, bevor der Schnee die Pässe versperrte. Nun befürchtete sie, bis zum Tauwetter auf ihn warten zu müssen. Als sie zu Madaren zurückging, war sie nicht mehr bei der Sache und hatte das Gefühl, als ließe sie ihr Gedächtnis im Stich.
    Â»Ich hoffe, Lady Otori hat keine schlechten Neuigkeiten aus Yamagata erhalten?« erkundigte sich Madaren, als Kaede ihren dritten schweren Fehler machte.
    Â»Nicht wirklich. Ich hatte nur gehofft, mein Mann würde früher zurückkehren.«
    Â»Ist Lord Otori wohlauf?«
    Â»Er scheint bei guter Gesundheit zu sein, dem Himmel sei Dank.« Kaede schwieg kurz und fragte dann unvermittelt: »Wie hast du ihn als Kind genannt?«
    Â»Tomasu, Lady.«
    Â»Tomasu? Das klingt so fremd. Was bedeutet es?«
    Â»Es ist der Name eines der großen Lehrer der Verborgenen.«
    Â»Und Madaren?«
    Â»Man sagt, Madaren sei eine Frau gewesen, die den Sohn Gottes liebte, als er auf Erden wandelte.«
    Â»Hat der Sohn Gottes sie auch geliebt?«, fragte Kaede, die sich an ihr früheres Gespräch erinnerte.
    Â»Er liebt uns alle«, antwortete Madaren mit tiefem Ernst.
    Kaedes Interesse galt in diesem Moment nicht dem seltsamen Glauben der Verborgenen, sondern ihrem Mann, der unter ihnen aufgewachsen war.
    Â»Ich nehme an, dass du kaum Erinnerungen an ihn hast. Du warst damals wohl noch ein Kind.«
    Â»Er war immer schon anders«, sagte Madaren langsam. »Das ist meine stärkste Erinnerung. Er sah anders aus als wir und er schien auch anders zu denken. Mein Vater war oft wütend auf ihn. Unsere Mutter tat so, als wäre sie wütend, himmelte ihn aber an. Ich bin ihm immer nachgerannt und auf die Nerven gegangen. Ich wollte, dass er mich wahrnahm. Ich glaube, genau darum habe ich ihn in Hofu erkannt. Ich habe ständig von ihm geträumt. Ich bete die ganze Zeit für ihn.«
    Sie verstummte, als befürchtete sie, zu viel gesagt zu haben. Kaede war leicht schockiert, obwohl sie selbst nicht genau wusste, warum.
    Â»Wir sollten wohl besser den Unterricht fortsetzen«, sagte sie mit kühlerer Stimme.
    Â»Natürlich, Lady«, stimmte Madaren unterwürfig zu.
    In dieser Nacht schneite es stark. Es war der erste Schnee des Jahres. Als Kaede morgens erwachte und das fremdartige weiße Licht sah, hätte sie fast geweint. Denn es bedeutete, dass die Pässe nun tatsächlich versperrt waren und Takeo bis zum Frühling in Yamagata bleiben würde.
    Die Fremden interessierten Kaede, und je besser

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