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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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gestanden hatte, die Katze mit dem Kikutablick eingeschläfert zu haben.
    Tränen vergieße ich nur in Vaters Anwesenheit , dachte sie.
    Vielleicht hatte sie hauptsächlich vor Wut geweint. Sie war wegen des Sohnes zornig auf ihn gewesen, den er nie erwähnt hatte, und wegen all der anderen Geheimnisse, die er ihr vielleicht vorenthalten hatte, wegen all der Täuschungen zwischen Eltern und Kindern.
    Aber sie wusste auch noch, wie ihr Blick den seinen beherrscht hatte, wie sie seine leisen Schritte gehört und ihn trotz seiner Unsichtbarkeit wahrgenommen hatte. Sie begriff, dass ihre Macht durch die Macht der Katze vergrößert und gestärkt wurde. Diese Macht jagte ihr immer noch Angst ein, doch mit jedem Tag, an dem sie vom Mangel an Schlaf, Essen und Ansprache geplagt wurde, wuchs ihr Reiz, und sie begann zu ahnen, wie sie sie beherrschen konnte.
    Gegen Ende der Woche rief Taku Maya zu sich und teilte ihr mit, sie würden am nächsten Tag nach Hofu aufbrechen.
    Â»Deine Schwester Shigeko bringt Pferde«, sagte er. »Sie möchte sich von dir verabschieden.«
    Als Maya sich nur stumm verneigte, sagte er: »Du darfst jetzt wieder reden. Deine Strafe ist ausgestanden.«
    Â»Danke, Meister«, sagte sie demütig und: »Es tut mir aufrichtig leid.«
    Â»So etwas haben wir alle einmal angestellt. Irgendwie überleben Kinder solche Sachen. Ich habe dir bestimmt erzählt, wie dein Vater mich damals in Shuho gefangen hat.«
    Maya lächelte. Diese Geschichte hatten sie und ihre Schwestern geliebt, als sie jünger gewesen waren. »Shizuka hat sie uns oft erzählt, um uns daran zu erinnern, dass wir gehorsam sein müssen!«
    Â»Offenbar hat sie die gegenteilige Wirkung gehabt! Wir hatten beide Glück, dass wir es mit deinem Vater zu tun hatten. Vergiss nicht, die meisten Erwachsenen des Stammes töten, ohne noch einmal darüber nachzudenken, ob du ein Kind bist oder nicht.«
    Shigeko brachte für Maya und Sada zwei ältere Stuten aus Maruyama mit. Es waren Schwestern, eine davon braun, die andere zu Mayas Freude hellgrau, mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif, ganz ähnlich wie Takus altes Pferd Ryume, Rakus Sohn.
    Â»Ja, du kannst die graue haben«, sagte Shigeko, die merkte, wie Mayas Augen leuchteten. »Aber sorg im Winter gut für sie.« Sie musterte Mayas Gesicht: »Jetzt kann ich Miki und dich auseinanderhalten.« Sie zog Maya beiseite und sagte: »Vater hat mir erzählt, was passiert ist. Ich weiß, wie schwer es für dich ist. Tu genau, was Taku und Sada dir sagen. Halt Augen und Ohren offen, wenn du in Hofu bist. Ich bin mir sicher, dass du dort nützlich für uns sein wirst.« Die Schwestern umarmten einander. Nachdem sie auseinandergegangen waren, hatte Maya das Gefühl, neue Kraft durch das Vertrauen gewonnen zu haben, das Shigeko zu ihr hatte. Das war eine der Sachen, die ihr halfen, den langen Winter in Hofu zu überstehen. Ständig wehte ein kalter Wind vom Meer, der keinen richtigen Schnee, sondern nur eisigen Schneeregen mit sich brachte. Das Fell derKatze war warm und Maya war oft versucht, es zu benutzen, anfangs vorsichtig und dann, als sie lernte, den Willen der Katze zu beherrschen, mit immer größerem Selbstvertrauen. Es gab noch vieles an den Räumen zwischen den Welten, das ihr große Angst machte: die hungrigen Geister mit ihrer Unersättlichkeit und auch ihr vages Bewusstsein, von irgendeiner Intelligenz gesucht zu werden. Diese glich einem Licht, das im Dunkeln leuchtete. Manchmal schaute Maya in das Licht und spürte seinen Reiz, aber meistens mied sie es und blieb im Schatten. Hin und wieder schnappte sie Bruchstücke von Wörtern auf, Geflüster, das sie nicht wirklich verstand.
    Was sie den ganzen Winter außerdem noch beschäftigte, war die Sache, die sie so wütend auf ihren Vater hatte werden lassen: der geheimnisvolle Junge, der ihr Halbbruder war, von dem niemand je sprach und von dem Taku behauptet hatte, er würde Takeo töten – ihren Vater! Wenn sie an diesen Jungen dachte, gerieten ihre Gefühle durcheinander und außer Kontrolle. Dann drohte ihr Wille vom Geist der Katze überwältigt zu werden und das zu tun, was dieser verlangte: zu dem Licht zu laufen, seiner Stimme zu lauschen, es zu erkennen und ihm zu gehorchen.
    Sie wachte oft schreiend aus Albträumen auf, allein im Zimmer, weil Sada inzwischen jede Nacht mit

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