Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Hisao vor Schmerz laut auf und stolperte.
Nur noch fünfzig Schritte. Kenji wagte nicht, sich umzudrehen, konnte aber keine Verfolger hören. Er ging ruhig und gelassen weiter, doch Hisao blieb zurück.
Als Kenji sich umdrehte, um dem Jungen Mut zu machen, sah er, wie die Menge ihm immer noch nachstarrte, und dann drängelte sich plötzlich Akio hindurch, gefolgt von Kazuo. Beide hatten ihre Messer gezückt.
»Hisao, wir treffen uns«, sagte er und glitt in die Unsichtbarkeit hinüber, doch gerade, als seine Gestalt sich aufzulösen begann, ergriff Hisao ihn beim Arm undschrie: »Nehmen Sie mich mit! Hier lässt man mich niemals gehen! Aber sie will Sie begleiten!«
Vielleicht lag es daran, dass er unsichtbar war und sich zwischen den Welten befand, vielleicht auch an der Intensität der Gefühle des Jungen, doch auf jeden Fall sah er in diesem Moment, was Hisao sah â¦
Seine Tochter, Yuki. Seit sechzehn Jahren tot â¦
Und mit Erstaunen begriff er, was der Junge war.
Ein Herr der Geister.
Er war noch nie einem begegnet. So etwas kannte er nur aus den Aufzeichnungen über den Stamm. Hisao selbst war sich seiner Fähigkeit nicht bewusst, und Akio ahnte nichts davon und durfte es auch nie erfahren.
Kein Wunder, dass der Junge Kopfschmerzen hatte. Kenji hätte am liebsten gelacht. Am liebsten geweint.
Kenji spürte noch Hisaos Hand auf seinem Arm, als er in das Geistergesicht seiner Tochter blickte und sie sah, wie er sie in Erinnerung hatte, als Kind, als Jugendliche, als junge Frau, und er spürte ihre Energie und Lebenskraft, wenn auch nur gedämpft und schwach. Er sah, wie sie die Lippen bewegte, und er hörte sie sagen: »Vater«, obwohl sie ihn seit ihrem zehnten Lebensjahr nicht mehr so genannt hatte.
Sie bezauberte ihn jetzt, genau wie sie ihn damals bezaubert hatte.
»Yuki«, sagte er hilflos und wurde wieder sichtbar.
Akio und Kazuo konnten ihn problemlos ergreifen. Weder die Unsichtbarkeit noch das zweite Ich konnten ihn retten.
»Er weiÃ, wie man an Otori herankommt«, verkündete Akio. »Das werden wir aus ihm herausquetschen und dann muss Hisao ihn töten.«
Doch der alte Mann hatte bereits die Kapsel zerbissen und das Gift geschluckt â die gleichen Stoffe, die seine Tochter hatte schlucken müssen. Er starb genau wie sie, unter Qualen, voller Bedauern darüber, dass seine Mission gescheitert war und er seinen Enkel zurücklassen musste. In seinen letzten Momenten betete er darum, beim Geist seiner Tochter bleiben zu dürfen, dass Hisao seine Kräfte einsetzte, um ihn bei sich zu behalten. Was wäre ich doch für ein mächtiger Geist , dachte er, und die Vorstellung brachte ihn zum Lachen, genau wie die Einsicht, dass das Leben mit all seinen Schmerzen und Freuden vorbei war. Doch er war seinen Weg bis zu Ende gegangen, seine Arbeit auf dieser Welt war getan und er starb aus freiem Willen. Sein Geist war frei und konnte in den ewigen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt eintreten.
KAPITEL 5
Die Winter in Inuyama waren lang und streng, brachten aber Freuden ganz eigener Art mit sich: Während der Zeit, die man drinnen verbringen musste, las Kaede ihren Töchtern Gedichte und alte Sagen vor, und Takeo sah mit Sonoda viele Stunden lang Verwaltungsakten durch, übte zusammen mit einem Künstler zur Entspannung das Anfertigen von Tuschezeichnungen und trank abends mit Kenji. Die Mädchen waren mit Lernen und Trainieren beschäftigt, und auÃerdem gab es Ablenkung durch das Bohnenfest, eine laute und fröhliche Angelegenheit, bei der man die Dämonen zur Tür hinaus in den Schnee scheuchte und das Glück begrüÃte, und auch durch Shigekos Volljährigkeit, denn am Neujahrstag war sie fünfzehn geworden. Die Feier war eher bescheiden, weil man ihr in zehn Monaten die Domäne von Maruyama übertragen würde, die über die weibliche Linie vererbt wurde und nach dem Tod von Maruyama Naomi an ihre Mutter, Kaede, übergegangen war.
Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Shigeko schlieÃlich über die Drei Länder herrschen, und ihre Eltern meinten, dass sie die Ländereien Maruyamas in diesem Jahr übernehmen solle, um selbst zu herrschen und sich die Leitlinien des Regierens aus erster Hand anzueignen. Die Zeremonie in Maruyama würde feierlich und prunkvoll werden und die Fortsetzung einer alten Tradition bezeugen. Takeo hoffte, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher