Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
schlimm?«
»Mir geht es gut«, antwortete er. »Bei diesem milden Wetter sind die Schmerzen auszuhalten. Gemba warder beste aller Reisegefährten und dein Pferd ist ein Wunder.«
»Du hast nichts von zu Hause gehört, oder?«, fragte Shigeko.
»Nein, aber da ich nichts erwartet habe, beunruhigt mich das Schweigen nicht. Aber wo ist Hiroshi?«, fragte er.
»Er kümmert sich um die Pferde und das Kirin«, antwortete Shigeko ruhig. »Gemeinsam mit Sakai Masaki, den wir aus Maruyama mitgebracht haben.«
Takeo musterte ihr Gesicht, entdeckte aber keine Gefühlsregung. Nach einer Weile fragte er: »Habt ihr in Akashi irgendeine Nachricht von Taku erhalten?«
Shigeko schüttelte den Kopf. »Hiroshi hat etwas erwartet, aber keiner der Muto dort hatte von ihm gehört. Könnte es sein, dass etwas nicht stimmt?«
»Ich weià nicht. Er hat sich so lange nicht gemeldet.«
»Ich habe ihn und Maya in Hofu getroffen, kurz bevor wir losgesegelt sind. Maya wollte das Kirin sehen. Sie machte einen guten Eindruck und wirkte stabiler. Offenbar hat sie sich mit dem Geschenk ihrer Gabe mehr oder weniger abgefunden und gelernt, diese besser zu beherrschen.«
»Du bezeichnest diese Besessenheit als Geschenk?«, fragte er erstaunt.
»Es wird eines sein«, sagte Gemba und tauschte ein Lächeln mit Shigeko.
»Dann verrate mir, Meister«, sagte Takeo und überspielte mit Ironie seine leichte Verärgerung darüber, dasssie ihm etwas vorenthielten. »Muss ich mir Sorgen um Taku und Maya machen?«
»Da du von hier aus nichts für die beiden tun kannst«, erklärte Gemba, »wäre es sinnlos, Kraft zu vergeuden, indem du dich um sie sorgst. Schlechte Neuigkeiten reisen schnell â sie werden dir bald zu Ohren kommen.«
Takeo begriff, dass dies ein weiser Rat war, und versuchte, die Sache zu vergessen. Doch als sie weiter in Richtung Hauptstadt ritten, träumte er in vielen Nächten von seinen Zwillingstöchtern, und in der Schattenwelt des Schlafes war ihm bewusst, dass etwas Sonderbares mit ihnen vorging. Maya leuchtete wie Gold und zog alles Licht von Miki ab, die in seinen Träumen so spitz und scharf war wie ein dunkles Schwert. Einmal erblickte er sie als die Katze und deren Schatten. Er rief sie, doch obwohl sie sich zu ihm umwandten, nahmen sie keine Notiz von ihm, sondern preschten lautlos auf einer fahlen StraÃe davon, bis sie auÃer Hörweite und damit auch auÃerhalb seines Schutzes waren. Aus diesen Träumen erwachte er mit einem schmerzhaften Gefühl des Verlustes, denn seine Töchter waren keine Kinder mehr, und selbst sein Sohn, im Augenblick noch ein Baby, würde schlieÃlich zum Mann werden und ihn herausfordern. Er wusste, dass Eltern Kinder in die Welt setzten, nur um am Ende durch diese ersetzt zu werden, und dass der Tod der Preis für das Leben war.
Mit jedem Tag wurde die Nacht kürzer, und je früher es morgens hell wurde, desto mehr kehrte Takeo aus jener Traumwelt zurück, gewann jene Entschlossenheitund Kraft zurück, die er brauchte, um mit der vor ihm liegenden Aufgabe fertig zu werden, um seine Gegenspieler zu beeindrucken und ihre Gunst zu gewinnen, um weiter sein Land zu führen und den Otoriclan zu erhalten, vor allem aber, um den Frieden zu bewahren.
KAPITEL 38
Der weitere Ritt verlief ohne Zwischenfälle. Es war die beste Reisezeit im Jahr, die Sommersonnenwende stand kurz bevor, und die Tage wurden immer länger, die Luft war klar und mild. Okuda schien insgesamt tief beeindruckt zu sein â vom Kirin, von den Maruyamapferden, von Shigeko, die beschlossen hatte, neben ihrem Vater zu reiten. Er stellte Takeo viele Fragen nach den Drei Ländern, ihrem Handel, ihrer Verwaltung, ihren Schiffen, und bei Takeos ehrlichen Antworten machte er noch gröÃere Augen.
Die Nachricht vom Kirin war ihnen vorausgeeilt, und als sie sich der Hauptstadt näherten und die Bürger auf die StraÃen strömten, um sie zu begrüÃen, wurde die Menge rasch gröÃer. Man machte einen Tagesausflug daraus, brachte Frau und Kinder in leuchtend bunten Kleidern mit, breitete Matten aus und stellte scharlachrote Sonnenschirme und weiÃe Zelte auf, aà und trank mit groÃem Vergnügen. Takeo empfand diese Festlichkeiten als einen Segen für seine Reise, durch den das schlechte Omen der Hinrichtungen in Inuyama verblasste, ein Eindruck, in dem er noch
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