Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
zwar von Kindesbeinen an Geschichten über ihn, die etwa, dass er von den Göttern abstammt, aber ich für meinen Teil habe seit Jahren nicht mehr daran geglaubt, dass er wirklich existiert.«
»Allem Anschein nach stammt der Otoriclan von der Kaiserfamilie ab«, sagte Gemba. »Denn als Takeyoshi Jato zum Geschenk erhielt, wurde ihm eine der Konkubinen des Kaisers, die zu jenem Zeitpunkt schwanger war, zur Frau gegeben.« Er lächelte Takeo an. »Du bist also ein Blutsverwandter des Kaisers.«
»Nach all den Jahren dürfte das kaum noch Verwandtschaft zu nennen sein«, sagte Takeo leichthin. »Aber als Verwandter ist er mir vielleicht gnädig. Shigeru hat mir vor vielen Jahren erzählt, es liege an der Schwäche des Kaisers, dass Kriegsherren wie Iida ungezügelt ihre Macht entfalten konnten. Daher ist es meine Pflicht, alles zu tun, was seine Position stärkt. Er ist der rechtmäÃige Herrscher über die Acht Inseln.« Er sah zum Pass, hinter dem sich die Gebirgszüge erstreckten, vom Abendlicht in tiefes Violett getaucht. Der Himmel war von blassem bläulichem Weià und die ersten Sterne tauchten auf. »Ich weià so wenig über die anderen Länder â wie sie regiert werden, ob dort Wohlstand herrscht, ob das Volk zufrieden ist. All dies muss ich herausfinden â und erörtern.«
»Das wirst du mit Saga Hideki erörtern«, sagte Gemba. »Denn inzwischen beherrscht er zwei Drittel des Landes, den Kaiser eingeschlossen.«
»Aber wir werden niemals zulassen, dass er die Drei Länder beherrscht«, verkündete Kahei.
Takeo wollte Kahei nicht offen widersprechen, doch wie immer hatte er insgeheim viel über die Zukunft seines Landes nachgedacht und auch darüber, wie er es am besten schützen konnte. Er hatte seinen Wiederaufbau nach den Zerstörungen und dem Verlust an Menschenleben geleitet, die von Bürgerkrieg und Erdbeben verursacht worden waren. Zwar hatte er nicht die Absicht, es an Zenko zu übergeben, wollte aber auch nicht erleben, dass man noch einmal darum kämpfte und es zerrisse. Takeo glaubte nicht, dass der Kaiser eine Gottheit war, die man anbeten musste, doch er erkannte den Kaiserthron als zentrales Symbol der Einheit an und war bereit, sich dem Willen des Kaisers zu unterwerfen, um den Frieden zu bewahren und den Zusammenhalt des ganzen Landes zu stärken.
Aber ich werde die Drei Länder nicht Zenko überlassen . Zu diesem Vorsatz kehrte er in Gedanken immer wieder zurück. Ich werde nie zulassen, dass er an meiner Stelle regiert.
Sie überquerten den Pass, als der Mond abnahm, und bevor er wieder rund war, näherten sie sich Sanda, einer Kleinstadt an der StraÃe zwischen Akashi und Miyako. Als sie in die Täler hinabritten und sich dabei die Routefür den Rückweg überlegten â und nach einer Stelle suchten, an der eine kleine Schar von Männern mögliche Verfolger aufhalten konnte â, prüfte Takeo den Zustand der Dörfer, die Anbaumethoden und den Gesundheitszustand der Kinder und bog zu diesem Zweck oft von der StraÃe ab, um die nähere Umgebung zu erkunden. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass er für die Dorfbewohner kein Unbekannter war: Sie verhielten sich so, als wäre plötzlich ein legendärer Held unter ihnen erschienen. Abends hörte er, wie blinde Sänger die Sagen der Otori vortrugen: der Verrat an Shigeru und dessen Tod, der Fall von Inuyama, die Schlacht von Asagawa, der Rückzug nach Katte Jinja und die Eroberung Hagis. AuÃerdem gab es neue Lieder über das Kirin, das gemeinsam mit Lord Otoris schöner Tochter in Sanda auf sie wartete.
Das Land wirkte stark vernachlässigt. Takeo erschrak über die halb zerfallenen Häuser und brachliegenden Felder. Unterwegs befragte er die Bauern und erfuhr, dass die hiesigen Domänen von einem letzten Aufgebot hartnäckig verteidigt worden waren, bis man vor zwei Jahren schlieÃlich vor Saga kapituliert hatte. Seitdem hatten Frondienste und Zwangsrekrutierungen dafür gesorgt, dass es in den Dörfern kaum noch Männer gab.
»Immerhin herrscht nun Friede, und dafür können wir Lord Saga dankbar sein«, erzählte ihm ein älterer Mann. Takeo fragte sich, um welchen Preis, und hätte den Menschen gern weitere Fragen gestellt, doch als sie sich der Stadt näherten, hatte er das Gefühl, zu vielFreundlichkeit sei vielleicht fehl
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