Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
sie in den Audienzraum geleiten, die von Minoru vorbereiteten Listen der Geschenke entgegennehmen und die Schreiber überwachen, die alle Vorgänge aufzeichneten. Dieser Mann verneigte sich vor Takeo bis zum Boden und überschlug sich vor Höflichkeit, als er ihn ansprach.
Auf einem polierten und überdachten Plankenweg gingen sie durch einen kleinen, erlesenen Garten zu einem noch schöneren und prächtigeren Gebäude. Der Tag wurde wärmer und das Tröpfeln der Teiche und Zisternen sorgte für ein verlockendes Gefühl der Kühle. Takeo konnte irgendwo im Haus Vögel flöten und rufenhören. Vermutlich handelte es sich um die Haustiere Lady Sagas. Dann fiel ihm ein, dass die Frau des Kriegsherrn im Jahr zuvor gestorben war. Er fragte sich, ob dies ein schwerer Verlust für Saga gewesen war, und wurde kurz von einer Angst um seine eigene Frau ergriffen, die so weit fort war: Wie sollte er ihren Tod verschmerzen? Könnte er ohne sie leben? Sich aus Gründen der Staatsräson eine andere Frau nehmen?
Er dachte an Gembas Rat, verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich voll und ganz auf den Mann, dem er gleich gegenübertreten würde.
Der Haushofmeister fiel auf die Knie, schob die Wandschirme auseinander und berührte den Boden mit der Stirn. Takeo betrat den Raum und warf sich nieder. Gemba folgte ihm, doch Shigeko blieb auf der Schwelle stehen. Erst als die beiden Männer den Befehl bekamen, sich aufzusetzen, glitt sie anmutig in den Raum und sank neben ihrem Vater zu Boden.
Saga Hideki saà am Kopfende des Raumes. Im Alkoven rechts neben ihm hing ein Gemälde im Stil des Festlandes von Shin. Vielleicht war es sogar das berühmte Bild Abendglocke eines fernen Tempels , das Takeo nur vom Hörensagen kannte. Verglichen mit den anderen Zimmern war dieses fast karg eingerichtet, als sollte nichts mit der machtvollen Persönlichkeit des Kriegsherrn wetteifern. Die Wirkung war beeindruckend, wie Takeo dachte. Die prunkvollen Gemälde glichen der verzierten Schwertscheide, aber hier war das blanke Schwert selbst, das auÃer seinem scharfen und tödlichen Stahl keine Verzierungen brauchte.
Er hatte geglaubt, Saga wäre möglicherweise ein brutaler Kriegsherr von schlichtem Gemüt, doch nun musste er sich korrigieren. Brutal mochte er sein, schlicht aber nicht â stattdessen war er ein Mann, der seinen Geist genauso fest unter Kontrolle hatte wie seinen Körper. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass er einem äuÃerst gefährlichen Gegner gegenübersaÃ. Voller Bitterkeit bedauerte er seine Behinderung, sein mangelndes Geschick mit dem Bogen, und dann vernahm er links von sich, wo Gemba entspannt und gefasst saÃ, ein sehr leises Brummen. Und plötzlich begriff er, dass man Saga niemals durch rohe Gewalt, sondern nur durch einen feinsinnigen Schachzug besiegen konnte, durch eine Verschiebung im Gleichgewicht der Lebenskräfte, wie sie die Meister des Weges des Houou bewerkstelligen konnten.
Shigeko verharrte in tiefer Verbeugung, während die beiden Männer einander musterten. Saga wirkte ein paar Jahre älter als Takeo, eher Ende als Anfang dreiÃig, und hatte die Gedrungenheit des mittleren Alters, strahlte aber eine Geschmeidigkeit aus, die ihn jünger erscheinen lieÃ: Er saà entspannt da, seine Bewegungen waren flieÃend. Saga hatte breite Schultern und die ausgeprägten Muskeln eines Bogenschützen, noch weiter betont durch die breiten Kragen seines feierlichen Gewandes. Seine Stimme klang barsch, er verschluckte beim Sprechen die Konsonanten und verkürzte die Vokale â zum ersten Mal hörte Takeo den Akzent des Nordostens, wo Saga geboren worden war. Dieser hatte ein breites und wohlgeformtes Gesicht, längliche, etwas schwerlidrige Augenund überraschend fein geschnittene, dicht am Kopf liegende Ohren mit winzigen Ohrläppchen. Er trug einen kleinen Bart und einen recht langen Schnurrbart, beide, im Gegensatz zu seinem Kopfhaar, leicht ergraut.
Saga musterte Takeos Gesicht nicht weniger genau, lieà seinen Blick über dessen Körper gleiten und kurz auf der rechten, im Handschuh steckenden Hand verweilen. Dann beugte sich der Kriegsherr vor und sagte abrupt, aber freundlich: »Was halten Sie davon?«
»Lord Saga?«
Saga zeigte auf den Alkoven. »Von dem Gemälde selbstverständlich.«
»Es ist wunderbar. Von Yu-Chien, nicht wahr?«
»Ha!
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