Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
wieder so scharf wie zuletzt mit siebzehn. Auge und Hand des Künstlers gewannen ihre Sicherheit wieder. Wenn er Minoru abends Briefe diktierte, sehnte er sich danach, ihm den Pinsel abzunehmen. Manchmal tat er dies auch, und genau, wie er schrieb â indem er die rechte Hand mit der linken stützte und den Pinsel zwischen den drei übrig gebliebenen Fingern hielt â, skizzierte er rasch irgendeine Szene, die sich ihm auf dem Tagesritt eingeprägt hatte: ein Schwarm Krähen, der zwischen Kiefern umherflog, eine Formation von Gänsen, die wie ein fremdes Schriftzeichen über eine seltsam geformte Schlucht flog, ein Fliegenschnäpper und eine Glockenblume vor dem Hintergrund eines dunklen Felsens. Minoru sammelte die Skizzen und schickte sie mit den Briefen an Kaede ab, und Takeo erinnerte sich an das Bild des Fliegenschnäppers, das er ihr vor vielen Jahren in Terayama geschenkt hatte. Seine Behinderunghatte ihn lange vom Malen abgehalten, doch indem er gelernt hatte, damit zurechtzukommen, hatte sich seine natürliche Begabung zu einem einmaligen und beeindruckenden Stil gewandelt.
Die StraÃe von Inuyama zur Grenze war in gutem Zustand und so breit, dass man zu dritt nebeneinanderreiten konnte. Ihre Oberfläche war glatt getreten, weil Miyoshi Kahei erst vor wenigen Wochen mit der Vorhut der Armee hier entlanggekommen war, ungefähr eintausend Männer, die meisten zu Pferd, gefolgt von Packpferden mit Vorräten und von Ochsenkarren. Der Rest der Armee würde sich im Laufe der nächsten Wochen von Inuyama aus in Marsch setzen. Das Grenzland war gebirgig. Abgesehen vom Pass, den sie überqueren würden, waren die Gipfel unzugänglich. Eine so groÃe Armee während des Sommers in Bereitschaft zu halten, erforderte gewaltige Mengen an Vorräten, und viele der FuÃsoldaten kamen aus Dörfern, in denen man die Ernte nicht ohne ihre Hilfe einbringen konnte.
Takeo und sein Gefolge trafen sich mit Kahei auf einer Hochlandebene dicht unterhalb des Passes. Es war immer noch kalt; wo der letzte Schnee lag, war das Gras weià gefleckt, und das Wasser in Flüssen und Teichen war eisig. Hier hatte man einen kleinen Grenzposten eingerichtet, obwohl nur wenige Menschen über Land von Osten kamen, da die meisten lieber in Akashi ein Schiff bestiegen. Das Gebirge der Hohen Wolken bildete ein natürliches Hindernis, das die Drei Länder seit vielen Jahren abschottete und bislang dafür gesorgt hatte, dass sie vom Rest des Landes nicht wirklich bemerkt und vom Kaiser, nominell ihr oberster Herrscher, weder regiert oder beschützt worden waren.
Das Lager wirkte organisiert und gut vorbereitet: Die Pferde standen in Reih und Glied, die Männer waren gut bewaffnet und ausgebildet. Auf jeder Flanke hatte man Palisaden in Pfeilspitzenformation gebaut, die das Bild der Hochebene verwandelten, und man hatte in aller Eile Lagerhäuser errichtet, um die Vorräte vor Wetter und Tieren zu schützen.
»Das Ende der Ebene bietet genug Platz für die Bogenschützen«, sagte Kahei. »Und wenn die FuÃsoldaten aus Inuyama kommen, haben wir auch genug Feuerwaffen, um StraÃe und Umland bis auf viele Meilen hinter uns zu verteidigen. Wir werden eine Reihe von Blockaden bauen. Sollten sie sich in das Gelände zerstreuen, setzen wir Pferde und Schwerter ein.«
Er fügte hinzu: »Hast du eine Ahnung, welche Waffen sie besitzen?«
»Sie hatten nur ein knappes Jahr Zeit, um Feuerwaffen zu kaufen und ihre Männer in deren Gebrauch auszubilden«, antwortete Takeo. »In diesem Punkt sind wir ihnen vermutlich überlegen. Doch wir brauchen auf jeden Fall Bogenschützen, denn bei Regen und Wind sind Feuerwaffen zu unzuverlässig. Ich hoffe sehr, dir Nachricht schicken zu können. Ich werde versuchen, möglichst viel herauszufinden â allerdings muss ich die ganze Zeit den Eindruck erwecken, auf Frieden aus zu sein. Ich darf ihnen keinen Vorwand dafür bieten, uns anzugreifen. Unsere Vorbereitungen dienen nur der Verteidigung der Drei Länder. Wir bedrohen niemanden jenseits unserer Grenze. Daher werden wir auch den Pass nicht befestigen. Du musst in reiner Verteidigungsstellung auf der Ebene bleiben. Wir dürfen nicht den Anschein erwecken, als wollten wir Saga provozieren oder den Kaiser herausfordern.«
»Wie seltsam, den Kaiser tatsächlich zu erblicken«, bemerkte Kahei. »Ich beneide dich. Wir hören
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