Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
aber sie merkte, dass man sich über ihren neuen Rang wunderte, ja ihn sogar ablehnte. Wenn Zenko sie unterstützt hätte, wäre es vielleicht anders gewesen, aber solange er lebte, würde jede Unzufriedenheit in der Mutofamilie in Trotz umschlagen, das war ihr klar. Aus diesem Grund fühlte sie sich verpflichtet, ihre Beziehungen zu sämtlichen Verwandten aufrechtzuerhalten, damit sie ihr die Treue hielten und sich mit ihr gegen ihren ältesten Sohn verbündeten.
Sie wusste nur allzu gut, dass man innerhalb des Stammes Geheimnisse hüten und ungehorsam sein konnte. Denn vor vielen Jahren hatte sie selbst Lord Shigeru über die Umtriebe des Stammes informiert, und die genauen Aufzeichnungen, die jener angelegt hatte, hatten es Takeo ermöglicht, den Stamm zu überlisten und zu kontrollieren. Kenji hatte gewusst, was sie getan hatte, und beschlossen, über das hinwegzusehen, was man eigentlich nur als Verrat bezeichnen konnte. Doch hin und wieder fragte sie sich, wer sie noch in Verdacht haben könnte. Die Angehörigen des Stammes hatten ein langes Gedächtnis, und wenn es um Rache ging, waren sie sowohl geduldig als auch gnadenlos.
Einen Monat nach der Geburt von Kaedes Kind und kurz nach Takeos Aufbruch nach Miyako bereitete sich Shizuka auf eine neue Reise vor. Sie wollte zuerst nach Yamagata, dann nach Kagemura, das hinter Yamagata in den Bergen lag, und von dort aus nach Hofu.
»Sowohl Kaede als auch der kleine Junge machen einen so gesunden Eindruck, dass ich noch vor der Regenzeit aufbrechen kann«, sagte sie zu Ishida. »Du bist hier und kannst dich um sie kümmern. Fumio ist nicht da und ich nehme an, du gehst dieses Jahr nicht auf Reisen.«
»Das Kind ist sehr kräftig«, stimmte Ishida zu. »Natürlich weià man bei Säuglingen nie, denn oft ist ihr Halt am Leben nur schwach und dann sterben sie plötzlich. Aber dieser kleine Junge scheint eine Kämpfernatur zu sein.«
»Er ist ein echter Krieger«, sagte Shizuka. »Kaede vergöttert ihn!«
»Ich habe noch nie eine Mutter gesehen, die so verrückt nach ihrem Kind ist«, gestand Ishida.
Kaede ertrug es kaum, von dem Säugling getrennt zu sein. Anders als im Falle ihrer anderen Kinder stillte sie ihn selbst. Shizuka beobachtete die beiden mit einer Mischung aus Neid und Mitleid: das wild entschlossen saugende Kind, die Mutter, ebenso fest entschlossen, ihr Baby zu beschützen.
»Wie soll er heiÃen?«, fragte sie.
»Das ist noch offen«, antwortete Kaede. »Takeo favorisiert Shigeru, aber der Name weckt unglückliche Assoziationen und wir haben ja schon Shigeko. Vielleicht nehmen wir einen anderen Otorinamen wie Takeshi oder Takeyoshi. Aber er wird erst einen Namen bekommen, wenn er zwei Jahre alt ist. Bis dahin nenne ich ihn meinen kleinen Löwen.«
Shizuka erinnerte sich daran, wie sie ihre eigenen Söhne angehimmelt hatte, als diese noch Kinder gewesen waren, und sie dachte über die Enttäuschung und die Sorgen nach, die sie ihr nun bereiteten.
Nach der Heirat mit Ishida hatte sie auf ein weiteres Kind gehofft, am besten ein Mädchen, aber die Jahre waren vergangen, ohne dass sie schwanger geworden war. Nun blutete sie kaum noch, und ihre Zeit war fast vorüber. Im Grunde hatte sie die Hoffnung aufgegeben. Ishida hatte keine Kinder aus erster Ehe. Seine Frau war schon lange tot, und obwohl er, da er die Frauen sehr liebte, gern wieder geheiratet hätte, war es nie dazu gekommen, weil Lord Fujiwara keine der Frauen für gut genug befunden hatte. Ishida war so sinnlich und liebevoll wie eh und je, und genau, wie Shizuka Takeo erzählt hatte, wäre sie damit zufrieden gewesen, ruhig und einträchtig mit ihm in Hagi zu leben und Kaede Gesellschaft zu leisten. Doch sie hatte eingewilligt, das Oberhaupt der Mutofamilie und damit auch Führerin des Stammes zu werden, und diese Aufgabe nahm nun ihre ganze Kraft und Zeit in Anspruch. AuÃerdem hatte dies zur Folge, dass sie vieles nicht mit Ishida besprechen konnte: Sie liebte ihren Mann, denn er hatte viele Eigenschaften, die sie bewunderte, aber leider gehörte die Verschwiegenheit nicht dazu. Er redete zu offen über alles, was ihn interessierte, und konnte nur schwer zwischen öffentlichen und privaten Themen unterscheiden. Seine Neugier, die Welt und ihre Geschöpfe, Menschen und Tiere, Pflanzen und Mineralien betreffend, kannte keine Grenzen, und er erörterte
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