Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
als Kaede nach ihrer Geburt so lange krank gewesen war. Sie hatte sie in den Stammesfähigkeiten trainiert und vor allen beschützt und gegen alle verteidigt, die ihnen Böses wollten.
AuÃerdem hatte sie noch ein Ziel, wusste aber nicht, ob sie genug Kraft besäÃe, um es zu erreichen. Sie hatte Takeo schon einen entsprechenden Vorschlag gemacht, aber er hatte abgelehnt. Sie musste immer wieder an den anderen Kriegsherrn denken, Iida Sadamu, und an das Mordkomplott, das sie gegen ihn gesponnen hatten. Wäre es doch nur so einfach wie damals. Sie hatte Takeo gesagt, dass sie ihm als Oberhaupt der Muto und als alte Freundin der Otori raten würde, sich Zenkos zu entledigen. Nüchtern betrachtet, fand sie dies immer noch richtig. Als Mutter hingegen â¦
Takeo hat mir gesagt, dass er Zenko nicht töten will , dachte sie. Ich habe keinen Grund, gegen seinen Wunsch zu handeln. Das kann niemand von mir erwarten.
Doch im tiefsten Inneren erwartete sie genau dies von sich selbst.
Sie sprach mit niemandem darüber, aber von Zeit zu Zeit holte sie diesen Gedanken hervor, dachte lange darüber nach und versuchte, sich an seine Finsternis, seine Bedrohlichkeit und seinen Reiz zu gewöhnen.
Buntas Sohn, ein Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren, begleitete sie, kümmerte sich um die Pferde, kaufte das Essen und ritt voraus, um alles für den nächsten Halt vorzubereiten. Das Wetter war schön, die Frühlingssaat ausgebracht, die Reisfelder hellgrün von den ersten Schösslingen und blau vom Himmel, der sich im Wasser spiegelte. Die StraÃen waren sicher und in bestem Zustand, die Städte waren fröhlich und wohlhabend, das Essen war reichlich und lecker, denn an den HauptstraÃen wetteiferten die Pferdestationen darum, die besten lokalen Köstlichkeiten und Spezialitäten anzubieten.
Shizuka staunte wieder einmal über all das, was Takeo und Kaede gemeinsam erreicht hatten, über den Reichtum und die Zufriedenheit ihres Landes, und sie war tief bekümmert über Machtgier und Rachedurst, die all dies bedrohten.
Denn nicht jeder freute sich über die Stabilität und den Frieden im Land. Die Mutofamilie, bei der sie in Tsuwano übernachtete, grollte darüber, an Rang eingebüÃt zu haben, weil inzwischen so viele andere Leute Handel trieben, und in Yamagata, in Kenjis altem Haus, das jetzt Yoshio, einem ihrer Cousins, gehörte, wandte sich das Gespräch am Abend den guten alten Zeiten zu, als Kikuta und Muto noch allseits gefürchtete und geachtete Freunde gewesen waren.
Shizuka kannte Yoshio von Kindesbeinen an. Er war einer der Jungen, die sie beim Training im verborgenen Dorf im Kampf besiegt und ausgetrickst hatte. Er behandelte sie wie eine alte Freundin und sprach offen zu ihr. Sie wusste nicht, ob sie auf seine Unterstützung zählen konnte, aber er war wenigstens ehrlich.
»Zu Kenjis Lebzeiten war alles anders«, sagte Yoshio. »Er wurde von allen geachtet und alle verstanden, warum er Frieden mit den Otori schloss. Takeo besaà Informationen, mit deren Hilfe er den Stamm hätte vernichten können, und in Maruyama wäre das auch fast passiert. Also hat Kenji damals richtig gehandelt: Das hat uns Zeit gegeben und unsere Kräfte geschont. Aber inzwischen sagen immer mehr Menschen, dass man den Wunsch der Kikuta nach Gerechtigkeit respektieren sollte: Takeo hat sich der schlimmsten Vergehen schuldig gemacht, er hat den Stamm verlassen und das Oberhaupt seiner eigenen Familie getötet. Damit ist er jahrelang davongekommen, aber nun sind Akio und Zenko miteinander im Bunde und daher in der Lage, ihn zu bestrafen.«
»Kenji hat Takeo im Namen der ganzen Mutofamilie die Treue geschworen«, erinnerte Shizuka ihn. »Wie auch mein Sohn â viele Male. Und ich bin nicht nur das Oberhaupt der Mutofamilie, weil Takeo mich dazu ernannt hat, sondern es war auch Kenjis Wunsch.«
»Kenji kann nicht aus dem Grab sprechen, oder? Was die meisten von uns betrifft â ich will ehrlich zu dir sein, Shizuka. Ich habe dich immer bewundert, ja sogar gemocht, obwohl du als Mädchen unerträglich warst. Aber in dieser Hinsicht hast du dich verändert. EineWeile warst du sogar ziemlich hübsch!« Er grinste sie an und schenkte Wein nach.
»Deine Komplimente kannst du dir sparen«, erwiderte sie und leerte ihren Becher in einem Zug. »Dafür bin ich inzwischen zu alt!«
»Du kämpfst
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