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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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vernünftiger Kerl. Er wird einsehen, dass es für alle das Beste ist. Zenko wird Sagas Vasall werden und der Stamm wird wieder vereint sein. Wir werden unsere alte Macht zurückerlangen, und da Saga alle Acht Inseln unter seiner Herrschaft vereinen will, werden wir auf Jahre hinaus interessante und lohnenswerte Dienste leisten können.«
    Und ich werde meinem Sohn nicht nach dem Leben trachten müssen , dachte Shizuka.
    Am nächsten Tag brach sie zum Mutodorf Kagemura auf. Es war der Tag nach dem Vollmond, und wegen des Gesprächs vom letzten Abend war sie während des Ritts nachdenklich. Sie befürchtete, die Mutofamilie im verborgenen Dorf könnte ähnliche Ansichten vertreten und sie in die gleiche Richtung drängen. Bunta sprach wenig und sie merkte, dass sie sich in seiner Gesellschaft unwohl fühlte und zornig auf ihn war. Wie lange hatte er sie schon in Verdacht? Seit er damals begonnen hatte, sie mit Informationen über Shigerus Beziehung zu Maruyama Naomi zu versorgen? Shizuka hatte viele Jahre mit der Angst gelebt, dass man ihren Verrat am Stamm aufdeckte, doch seitdem sie Kenji alles gebeichtet und seine Zustimmung und Vergebung erhalten hatte, war die Furcht verflogen. Nun keimte sie wieder auf und ließ sie so wachsam und verteidigungsbereit sein wie seit Jahren nicht mehr. Sie machte sich bereit, jeden Moment um ihr Leben kämpfen zu müssen. Sie ertappte sich dabei, wie sie Bunta und den Jungen musterte und sich überlegte, wie sie sich verhalten würde, wenn die beiden sie angriffen. Sie hatte darauf geachtet, dass ihre Fähigkeiten nicht nachließen, und wie in ihrem ganzen Leben jeden Tag trainiert, aber sie war nicht mehr die Jüngste. Sie konnte zwar die meisten Männer mit dem Schwert überwinden, wusste aber, dass sie ihnen an Körperkraft unterlegen war.
    Bei Anbruch der Nacht erreichten sie die Herberge und standen früh am Morgen auf. Den Jungen und die Pferde ließen sie zurück, um zu Fuß durch die Berge zu gehen, wie sie es damals mit Kondo getan hatte. Shizukas Schlaf war leicht gewesen, sie hatte auf jedes Geräusch gehorcht und ihr war immer schwerer zu Mute geworden: Der Morgen war nebelig, der Himmel bedeckt. Sie konnte die Tränen nur mit Mühe zurückhalten und musste immerfort an Kondo denken – an genau diesem Ort hatte sie mit ihm geschlafen. Sie hatte ihn nicht geliebt, aber er hatte sie auf irgendeine Art berührt und sie hatte Mitleid mit ihm gehabt, und schließlich war er ihr in genau dem Augenblick zu Hilfe gekommen, als sie glaubte, dass ihr Leben auf langsame und qualvolle Art zu Ende ginge, und er war nur gekommen, um vor ihren Augen zu verbrennen. Sein unerschütterliches, pragmatisches Wesen hatte auf einmal etwas fast unerträglich Tragisches und Edles. Wie lächerlich er gewesen war und wie bewundernswert! Warum rührte diese Erinnerung sie gerade jetzt so tief? Fast war es, als riefesein Geist den ihren, um ihr etwas mitzuteilen oder sie zu warnen.
    Anders als sonst konnte sie selbst der plötzliche Anblick des Mutodorfes in dem versteckten Tal nicht aufheitern. Sie kamen am späten Nachmittag an. Die Sonne war gegen Mittag zwar kurz herausgekommen, aber nun ging sie schon wieder hinter dem steilen Gebirgszug unter, und im Tal stieg wieder der Nebel auf. Es war kalt, und sie war froh über ihren Kapuzenmantel. Die Tore des Dorfes waren verriegelt und wurden ihrem Gefühl nach nur zögernd geöffnet, und sogar die Häuser wirkten verschlossen und feindselig. Die Holzwände waren dunkel von Feuchtigkeit, die Dächer mit Steinen beschwert.
    Shizukas Großeltern waren schon vor Jahren gestorben, und im alten Haus wohnten Familien im Alter ihrer Söhne, die alle junge Kinder hatten. Sie kannte niemanden von ihnen wirklich gut, obwohl ihr die Namen, die Fähigkeiten und die meisten Einzelheiten ihres Lebens geläufig waren.
    Kana und Miyabi, inzwischen Großmütter, besorgten immer noch den Haushalt, und von ihnen wurde Shizuka mit aufrichtiger Freude begrüßt. Bei den anderen Erwachsenen wusste sie nicht, ob die Herzlichkeit echt war, aber die Kinder waren aufgeregt, als sie eintraf, vor allem Miki.
    Shizuka hatte sie zuletzt vor knapp zwei Monaten gesehen und sie staunte über die Veränderung, die mit dem Mädchen vor sich gegangen war. Sie war gewachsen und hatte Gewicht verloren, so dass sie gestreckt unddünn wirkte. Die spitzen Knochen

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