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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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sie litt keinen Hunger. Sie wusste schon lange, dass es umso einfacher war, sich unsichtbar zu machen und das zweite Ich einzusetzen, je weniger sie aß. Dies übte sie, wenn sie allein war, und manchmal täuschte sie sich sogar selbst und sah Miki an der Wand gegenüber lehnen. Sie redete nicht mit Akio, sondern musterte ihn genauso eindringlich wie er sie. Ihr war bekannt, dass er sich nicht unsichtbar machen konnte und auch nicht die Fähigkeit des einschläfernden Kikutablickes besaß, aber er nahm das eine wahr und konnte dem anderen ausweichen. Er hatte schnelle Reflexe – ihr Vater hatte oft erzählt, es seien die schnellsten, die er kenne –, war bärenstark und gänzlich frei von Mitleid und allen anderen sanftmütigeren menschlichen Gefühlen.
    Zwei- bis dreimal am Tag wurde sie von einer der Mägde des Haushalts zum Abort geführt. Sonst sah sie niemanden. Akio sprach kaum mit ihr. Doch nachdem sie eine Woche lang gefangen gewesen war, kam er eines späten Abends zu ihr, kniete sich vor sie, nahm ihre Hände und drehte die Handflächen nach oben. Siekonnte den Wein in seinem Atem riechen und seine Worte klangen unnatürlich bedächtig.
    Â»Ich erwarte, dass du mir wahrheitsgemäß antwortest, denn ich bin das Oberhaupt deiner Familie. Hast du Fähigkeiten deines Vaters geerbt?«
    Sie schüttelte den Kopf, aber noch bevor sie damit fertig war, bekam sie eine solche Ohrfeige, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Sie hatte nicht gesehen, wie er die Hand bewegt hatte.
    Â»Du hast schon einmal versucht, mich mit deinem Blick zu bannen: Du besitzt ohne jeden Zweifel die Gabe des Einschläferns. Wie sieht es mit der Unsichtbarkeit aus?«
    Sie gab es zu, weil sie nicht wollte, dass er sie tötete, aber sie verschwieg ihm die Katze.
    Â»Und wo befindet sich deine Schwester?«
    Â»Das weiß ich nicht.«
    Obwohl sie den Schlag diesmal erwartete, konnte sie ihm nicht schnell genug ausweichen. Akio grinste, als wäre es ein lustiges Spiel.
    Â»Sie ist bei der Mutofamilie in Kagemura.«
    Â»Wirklich? Aber sie ist keine Muto. Sie ist eine Kikuta. Ich denke, sie sollte auch hier bei uns sein.«
    Â»Die Mutofamilie wird sie Ihnen niemals überlassen«, sagte Maya.
    Â»In der Mutofamilie hat sich einiges geändert. Ich dachte, du hättest das begriffen. Auf lange Sicht hält der Stamm immer zusammen«, sagte Akio. »So überleben wir.«
    Er tippte sich mit den Fingernägeln an die Zähne.Sein rechter Handrücken war von einer alten Narbe entstellt, die vom Handgelenk bis zur Wurzel des Zeigefingers reichte.
    Â»Du hast gesehen, wie ich diese Mutohexe Sada getötet habe. Ich würde nicht zögern, dich auch zu töten.«
    Darauf erwiderte Maya nichts. Sie fand ihre Reaktion auf seine Worte interessanter und war überrascht, dass sie keine Angst vor ihm hatte. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht bewusst gewesen, dass sie wie ihr Vater die Kikutafähigkeit der Furchtlosigkeit besaß.
    Â»Ich habe Folgendes gehört«, sagte er. »Dass deine Mutter nichts unternehmen würde, um dich zu retten, dass dein Vater dich aber liebt.«
    Â»Das stimmt nicht«, log Maya. »Mein Vater macht sich nicht viel aus meiner Schwester und mir. Die Kriegerklasse hasst Zwillinge und hält sie für eine Schande. Mein Vater ist bloß sanftmütig.«
    Â»Er war immer weichherzig«, sagte Akio, und sie erkannte seine Schwäche: seinen tiefen Hass und Neid auf Takeo. »Vielleicht lockst du ihn zu mir.«
    Â»Nur, damit er dich tötet«, erwiderte sie.
    Akio lachte und kam auf die Beine. »Aber Hisao wird er niemals töten!«
    Maya musste an Hisao denken. Das ganze letzte halbe Jahr hatte sie sich mit der Tatsache anfreunden müssen, dass er der Sohn ihres Vaters und damit ihr Halbbruder war, von dem niemand sprach, von dessen Existenz ihre Mutter bestimmt nie erfahren hatte. Und ebenso sicher war, auch Hisao wusste nicht, wer sein wahrer Vater war. Er hatte Akio Vater genannt und sieverständnislos angeschaut, als sie ihm erzählt hatte, sie sei seine Schwester. Immer wieder klang Sadas Stimme in ihrem Kopf nach: Dann ist der Junge tatsächlich Takeos Sohn? Und Takus Antwort: Ja, und laut der Prophezeiung ist er der einzige Mensch, der ihm den Tod bringen kann.
    Ihr noch nicht völlig ausgebildeter Charakter besaß eine ganz eigene Sturheit, irgendein Erbe der Kikuta, das

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