Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
kommen und für deinen Bruder beten?«
    Er warf ihr einen eisigen Blick zu, dann schüttelte er ungeduldig den Kopf. Sie wollte ihn nicht drängen, denn sie hatte Angst, er könnte sie hier festhalten, wenn nötig mit Gewalt. Sie verneigte sich unterwürfig und spürte, wie die Wut ohnmächtig in ihrem Bauch brannte. Als sie ging, hörte sie am anderen Ende der Veranda Stimmen. Sie drehte sich um und sah Don João und seine Dolmetscherin Madaren auf sich zukommen. Sie trugen neue, prächtige Kleider, sogar Madaren, und ihr Schritt verriet ein neues Selbstvertrauen.
    Shizuka begrüßte Don João kalt und sprach dann Madaren an, wobei sie auf Höflichkeiten verzichtete und der Wut freien Lauf ließ, die sie so mühsam unterdrückt hatte. »Was, glaubst du, hast du hier zu suchen?«
    Ihr Ton ließ Madaren erröten. Doch sie fasste sich rasch und antwortete: »Ich erfülle Gottes Willen, wie wir alle.«
    Shizuka antwortete nichts, sondern stieg in dieSänfte. Als sie im scharfen Trott von sechs Männern Zenkos fortgetragen wurde, verfluchte sie die Fremden für ihre Waffen und ihren Gott. Sie wusste kaum, was sie hervorstieß, denn Wut und Trauer verwirrten sie, und sie spürte, dass beide Gefühle sie in den Wahnsinn trieben.
    Als die Sänfte vor der Herberge hielt und auf dem Boden abgesetzt wurde, stieg sie nicht gleich aus, sondern wünschte sich, für immer in diesem winzigen Raum bleiben zu können, der so sehr einem Sarg glich. Sie wollte nie wieder etwas mit den Lebenden zu tun haben. Der Gedanke an Miki brachte sie schließlich dazu, in den bronzefarbenen Sonnenschein zu treten.
    Wie bei ihrem Aufbruch hockte Bunta auf der Veranda, aber das Zimmer war leer.
    Â»Wo ist Miki?«, fragte sie scharf.
    Â»Sie ist drinnen«, antwortete er überrascht. »Niemand ist an mir vorbeigegangen, ob hinein oder heraus.«
    Â»Wer hat sie geholt?« Shizukas Herz begann vor Schreck heftig zu hämmern.
    Â»Niemand, das schwöre ich dir.«
    Â»Lüg mich besser nicht an«, sagte sie, ging noch einmal in das Zimmer und suchte vergeblich nach dem schmalen Körper, der sich zusammenkauern und noch im kleinsten Winkel verstecken konnte. Das Zimmer war leer, doch in einer Ecke entdeckte Shizuka eine neue Ritzzeichnung an einem Balken. Zwei voneinander abgewandte Halbkreise und darunter ein ganzer Kreis.
    Â»Sie sucht Maya.«
    Shizuka kniete sich auf den Boden und versuchte, ihrHerz zu beruhigen. Miki war verschwunden: Sie hatte sich unsichtbar gemacht, war an Bunta vorbeigehuscht und in der Stadt untergetaucht. All die Jahre beim Stamm hatten sie auf genau so etwas vorbereitet. Shizuka konnte nichts mehr für sie tun.
    Sie saß lange da, spürte, wie sich die Hitze des Tages um sie ballte, und sie spürte den Schweiß, der sich zwischen ihren Brüsten und in ihren Achselhöhlen bildete. Sie hörte, wie die Wachen einander ungeduldig etwas zuriefen, und wurde sich bewusst, dass sie keine Wahl mehr hatte. Sie konnte nicht einfach verschwinden, ohne Taku zu betrauern, aber sollte sie in Hofu bleiben, bis ihr Sohn oder die Kikuta ihre Ermordung befahlen? Sie hatte keine Zeit mehr, die Mutofamilie zu Hilfe zu rufen – und würde man jetzt, da Zenko die Führung der Familie für sich beanspruchte, überhaupt noch auf sie hören?
    Sie rief die Toten um Rat an: Shigeru, Kenji, Kondo und Taku. Trauer und Schlafmangel begannen ihren Tribut zu fordern. Sie spürte den kalten Atem der Toten auf ihrer Haut, als diese seufzten: Bete für uns. Oh, bete für uns.
    In ihrer Erschöpfung klammerte sie sich an diesen Gedanken. Sie würde zum Tempel gehen und die Toten betrauern, bis sie entweder eine der ihren wurde oder bis sie ihr sagten, was sie tun sollte.
    Â»Bunta«, rief sie. »Ich habe eine letzte Bitte an dich. Hol mir eine scharfe Schere und ein weißes Gewand.«
    Er erschien auf der Türschwelle, kreidebleich vor Schreck.
    Â»Was ist passiert? Sag mir nicht, dass du dir das Leben nehmen willst.«
    Â»Tu einfach, was ich dir sage. Ich muss zum Tempel, um mich um Takus Grabstein und die Beerdigungsriten zu kümmern. Wenn du mir gebracht hast, worum ich dich gebeten habe, kannst du tun, was dir gefällt. Ich entlasse dich aus meinen Diensten.«
    Als er zurückkehrte, bat Shizuka ihn, draußen zu warten. Sie packte die Bündel aus und nahm die Schere. Sie löste ihr Haar,

Weitere Kostenlose Bücher