Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
teilte es in zwei Stränge und schnitt sie ab. Dann legte sie die langen Strähnen vorsichtig auf die Matten, wobei sie mit befremdetem Staunen merkte, wie viele weiße Haare sie schon hatte. Danach schnitt sie ihre Haare ganz kurz und spürte, wie sie fielen, als wären sie Staub. Sie fegte sie weg und zog das weiße Gewand an. Sie nahm ihre Waffen – Schwert, Messer, Garrotte und Wurfmesser – und legte sie zwischen die zwei Haarstränge. Sie verneigte sich bis zum Boden, bedankte sich für ihre Waffen und für das Leben, das sie bis zu diesem Punkt geführt hatte. Dann bat sie um eine Schale Tee, leerte sie und brach sie dann mit ihren starken Händen in der Mitte durch.
    Â»Ich werde nie mehr trinken«, sagte sie laut.
    Â»Shizuka!«, wandte Bunta von der Türschwelle ein, doch sie hörte nicht auf ihn.
    Â»Hat sie den Verstand verloren?«, hörte sie seinen Sohn flüstern. »Arme Frau!«
    Mit langsamen, bewussten Schritten trat sie vor die Herberge. Dort hatte sich eine kleine Menge versammelt, und als sie in die Sänfte stieg, folgten ihr die Menschen auf der Straße und am Ufer bis nach Daifukuji. Zenkos Wachen war angesichts dieser Prozession unbehaglich zu Mute und sie versuchten mehrmals, die Menge zurückzudrängen, doch diese wurde immer größer, aufmüpfiger und feindseliger. Da gerade Ebbe herrschte, liefen viele hinab zum Fluss, sammelten Steine aus dem Schlick und bewarfen die Wachen, bis sich diese vom Tor des Tempels zurückzogen. Die Träger setzten Shizuka vor dem Tor ab, und sie ging mit so langsamen Schritten zum Haupthof, dass es schien, als schwebte sie. Die Menge ballte sich am Eingang. Shizuka setzte sich auf die Erde, faltete die Beine wie ein göttliches Wesen auf einer Lotosblume und gestattete sich endlich, über den Tod ihres einen Sohnes und den Verrat des anderen zu weinen.
    Während sie dort saß, wurden die Beerdigungsriten abgehalten, die Steine graviert und aufgerichtet. Die Tage vergingen, doch sie rührte sich nicht vom Fleck und aß und trank nichts. Am dritten Abend regnete es ein wenig und die Menschen sagten, der Himmel speise sie. Danach regnete es jeden Abend, und tagsüber sah man oft, dass die Vögel um ihren Kopf flatterten.
    Â»Sie speisen sie mit Hirsebröckchen und Honigkrümeln«, berichteten die Mönche.
    Die Bürger der Stadt meinten, der Himmel weine um die geschlagene Mutter, und sie dankten ihm, weil die Gefahr der Dürre gebannt war. Zenkos Beliebtheit schwand, als der sechste Mond sich langsam rundete.

KAPITEL 42

    Viele Tage und Nächte betrauerte Maya den Verlust der Pferde. Den viel schwereren Verlust konnte sie noch nicht begreifen. Shigeko hatte sie gebeten, auf die Tiere Acht zu geben, und sie hatte sie entkommen lassen. Sie durchlebte immer wieder den Moment, als sie die Zügel losgelassen hatte und die Stuten davongaloppiert waren, und dies bedauerte sie genauso bitterlich wie ihre unerklärliche Unfähigkeit, sich zu rühren oder zu verteidigen. Es war erst das dritte Mal, dass sie einer echten Gefahr ins Auge geschaut hatte – nach dem Überfall in Inuyama und dem Kampf mit ihrem Vater –, und sie hatte das Gefühl, trotz ihres jahrelangen Trainings beim Stamm im entscheidenden Moment versagt zu haben.
    Sie hatte viel Zeit, um über ihr Versagen nachzudenken. Als sie mit rauer Kehle und leichter Übelkeit wieder zu Bewusstsein kam, befand sie sich in einem kleinen, schwach erhellten Raum, den sie als verstecktes Zimmer eines Hauses des Stammes erkannte. Takeo hatte seinen Töchtern oft erzählt, wie der Stamm ihn in solchen Zimmern gefangen gehalten hatte, und die Erinnerung daran tröstete und beruhigte Maya. Sie hatte geglaubt, Akio würde sie sofort töten, aber das hatte er nicht getan – er hatte ihr Leben aus irgendeinem Grund verschont. Sie wusste, sie konnte jederzeit entkommen, denn Türen oder Wände stellten für die Katze kein Hindernis dar, aber sie wollte noch nicht fliehen. Sie wollte in der Nähe von Akio und Hisao bleiben. Sie würde niemals zulassen, dass sie ihren Vater töteten – vorher tötete sie die beiden. Daher bezähmte sie zunächst ihren Zorn und dann ihre Angst und nahm sich vor, so viel wie möglich über Akio und Hisao in Erfahrung zu bringen.
    Anfangs sah sie Akio nur, wenn er ihr Essen und Wasser brachte. Es gab wenig zu essen, aber

Weitere Kostenlose Bücher