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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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eine blinde Entschlossenheit weckte. Die Gleichung war einfach für sie: Wenn Hisao stürbe, lebte Takeo für immer.
    Von den Übungen abgesehen, die sie gewissenhaft machte, hatte sie keine Beschäftigung, und sie trieb oft zwischen Schlaf und Wachen und träumte lebhaft. Sie träumte von Miki, und die Träume waren so deutlich, dass sie glaubte, ihre Schwester müsste mit im Zimmer sein, und aus diesen Träumen erwachte sie immer erfrischt. Sie träumte von Hisao. Sie kniete sich neben ihn, während er schlief, und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin deine Schwester«, und einmal träumte sie, dass sich die Katze neben ihn legte und durch ihr Fell die Wärme seines Körpers spürte.
    Allmählich war sie so besessen von Hisao, als müsste sie alles über ihn in Erfahrung bringen. Nachts, wenn das ganze Haus schlief, begann sie probehalber die Katzengestalt anzunehmen, anfangs zögernd, weil sie dies vor Akio geheim halten wollte, dann mit wachsender Selbstsicherheit. Am Tag war sie eine Gefangene, aber nachts strich sie frei durch das Haus, beobachtete seine Bewohner und trat in ihre Träume ein. Voller Verachtung sah sie ihre Ängste und Hoffnungen. Die Mägdebeklagten sich über Geister, einen Atemhauch auf ihrem Gesicht oder warmes Fell neben sich und meinten, ein großes Geschöpf über den Fußboden tapsen zu hören. In der ganzen Stadt passierten seltsame Dinge, überall erblickte man Zeichen und Erscheinungen.
    Akio und Hisao schliefen getrennt von den anderen Männern in einem Zimmer hinten im Haus. In der dunkelsten, stillsten Nachtzeit, kurz vor dem Anbruch der Dämmerung, begab sich Maya dorthin, um Hisao beim Schlafen zuzuschauen. Manchmal lag er in Akios Armen, manchmal war er für sich. Er schlief unruhig, warf sich hin und her und murmelte. Seine Träume waren grausam und zerrissen, aber sie interessierten Maya. Manchmal wachte er auf und konnte nicht wieder einschlafen. Dann ging er zu einem kleinen Schuppen, der sich hinter dem Haus auf der anderen Hofseite befand und eine Werkstatt zum Schmieden und zum Reparieren von Haushaltsgeräten und Waffen beherbergte. Maya folgte ihm und beobachtete seine sorgsamen, gemessenen Bewegungen, seine geschickten Hände, seine Versunkenheit in die Prozesse des Erfindens und Experimentierens.
    Von den Mägden schnappte sie Gesprächsfetzen auf, aber sie redeten nicht mit ihr. Von den Gängen zum Abort abgesehen, bekam sie keine zu Gesicht, bis ihr das Essen eines Tages nicht von Akio, sondern von einer jungen Frau gebracht wurde.
    Sie war ungefähr in Shigekos Alter und sie starrte Maya mit unverhohlener Neugier an.
    Â»Starr mich nicht so an«, sagte Maya. »Du weißt doch, wie mächtig ich bin.«
    Das Mädchen kicherte, sah aber nicht fort. »Du siehst aus wie ein Junge«, sagte sie.
    Â»Du weißt genau, dass ich ein Mädchen bin«, erwiderte Maya. »Du hast mich doch pinkeln sehen, oder?« Sie benutzte die Sprache der Jungen und das Mädchen lachte.
    Â»Wie heißt du?«, fragte Maya.
    Â»Noriko«, flüsterte sie.
    Â»Noriko, ich beweise dir jetzt, wie mächtig ich wirklich bin. Du hast von einem Tuch zum Einwickeln geträumt. Du hattest ein paar Reiskuchen darin eingewickelt, und als du sie wieder ausgepackt hast, wimmelten sie von Maden.«
    Â»Das habe ich niemandem erzählt!«, keuchte das Mädchen, kam aber einen Schritt näher. »Woher weißt du das?«
    Â»Ich weiß vieles«, antwortete Maya. »Schau mir in die Augen.« Sie hielt kurz den Blick des Mädchens, lange genug, um erkennen zu können, dass es abergläubisch und naiv war, und sie erkannte noch etwas anderes, etwas, das mit Hisao zu tun hatte …
    Als Maya ihren machtvollen Blick abwandte, sackte der Kopf des Mädchens nach vorn. Maya schlug sie auf beide Wangen, um sie zu wecken. Die Magd sah sie benommen an.
    Â»Du bist dumm, wenn du Hisao liebst«, sagte Maya ihr auf den Kopf zu.
    Das Mädchen errötete. »Er tut mir leid«, flüsterte sie. »Sein Vater ist so grob zu ihm und es geht ihm oft nicht gut.«
    Â»Nicht gut? Wieso?«
    Â»Er bekommt schreckliche Kopfschmerzen. Er übergibt sich und kann nicht mehr richtig sehen. Heute ist er krank. Der Kikutameister war verärgert, weil sie mit Lord Zenko verabredet waren – Akio ist allein hingegangen.«
    Â»Vielleicht kann ich ihm helfen«, sagte

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