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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Lebenden haben.
    Seit Wochen hatte sie unruhig geschlafen, doch sobald sie wieder im kleinen, stickigen Zimmer war, überkam sie eine große Gelöstheit. Ihre Augenlider wurden schwer, ihr ganzer Körper schmerzte vor Müdigkeit. Ohne ein Wort zu Noriko legte sie sich auf den Fußboden und versank sofort im tiefen Fluss des Schlafes.
    Sie erwachte wie auf Befehl, als zöge man sie aus dem Wasser.
    Komm zu mir.
    Es war tiefste Nacht, die Luft feucht und alles war still. Mayas Nacken und Haare waren schweißnass. Sie wollte nicht das schwere Fell der Katze spüren, doch ihr Herr rief nach ihr – sie musste zu ihm.
    Die Katze spitzte die Ohren. Ihr Kopf glitt hin und her. Sie schwebte mit Leichtigkeit durch die dünnen Wände im Haus und dann durch die Außenmauer auf den Hinterhof und über den Hof zum Schuppen, in dem die ganze Nacht das Feuer der Schmiede brannte. Im Haushalt war man es gewohnt, dass sich Hisao frühmorgens, noch vor der Dämmerung, dort aufhielt. Er hatte diesen Ort für sich in Besitz genommen und niemand störte ihn dort.
    Er streckte die Hand aus und die Katze ging zu ihm, als sehnte sie sich nach seiner Berührung, seinem Streicheln. Er kraulte ihren Kopf und sie leckte mit ihrer rauen Zunge seine Wange. Beide schwiegen, doch zwischen ihnen floss ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit hin und her, wie Tiere es empfinden, ein Verlangen nach Nähe und Berührung.
    Nach einer ganzen Weile sagte Hisao: »Zeig mir deine wahre Gestalt.«
    Maya merkte, dass sie sich immer noch an den Jungen schmiegte, dessen Hand auf ihrem Nacken lag. Dies fand sie sowohl erregend als auch widerwärtig. Sie riss sich los. Im Zwielicht konnte sie seine Miene nicht erkennen. Das Feuer knisterte und der Rauch brannte in ihren Augen.
    Hisao hob die Lampe vor ihr Gesicht und mustertesie. Sie hielt den Blick gesenkt, weil sie ihn nicht herausfordern wollte. Keiner von beiden sprach, als wollten sie nicht in die menschliche Welt der Sprache zurückkehren.
    Schließlich sagte Hisao: »Warum erscheinst du in der Gestalt einer Katze?«
    Â»Ich habe eine Katze mit dem Kikutablick getötet, und nun bin ich von ihrem Geist besessen«, antwortete sie. »Keiner der Muto weiß, wie man damit umgeht, aber Taku hat mir geholfen, den Geist zu beherrschen.«
    Â»Ich bin der Herr dieses Geistes. Warum oder wie, weiß ich nicht. Er hat mich geheilt, als er bei mir war, und außerdem hat er die Stimme der Geisterfrau so gedämpft, dass ich sie hören konnte. Ich mag Katzen, aber mein Vater hat eine vor meinen Augen getötet, weil ich sie mochte – bist du etwa diese Katze?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Â»Ich mag dich trotzdem«, sagte er. »Offenbar mag ich dich sehr, denn ich muss ständig an dich denken. Versprich mir, dass du bei mir bleibst.«
    Er stellte die Lampe auf den Boden und versuchte wieder, Maya an sich zu ziehen. Sie sträubte sich.
    Â»Weißt du, dass wir Bruder und Schwester sind?«, fragte sie.
    Er runzelte die Stirn. »Ist sie deine Mutter? Die Geisterfrau? Kannst du sie deshalb sehen?«
    Â»Nein, wir haben nicht dieselbe Mutter, sondern denselben Vater.«
    Inzwischen konnte sie ihn besser sehen. Er ähnelte weder ihrem Vater noch ihr und Miki, aber sein Haarmit dem Glanz eines Vogelflügels glich dem ihren, und seine Haut hatte eine ähnliche Textur und Farbe, jenen Honigton, der Kaede zur Verzweiflung getrieben hatte. Maya hatte plötzlich eine Erinnerung an die Kindheit – Sonnenschirme und Cremes, um die Haut aufzuhellen. Wie dumm und verwerflich all das inzwischen wirkte.
    Â»Dein Vater ist Otori Takeo, den wir den Hund nennen«, sagte er und lachte auf die höhnische Art, die sie verabscheute. Plötzlich hasste sie ihn wieder und verachtete sich für die Bereitwilligkeit und Leichtigkeit, mit der sich die Katze ihm hingegeben hatte. »Mein Vater und ich werden ihn töten.«
    Er beugte sich aus dem Lampenschein und griff nach einer kleinen Feuerwaffe. Das Licht schimmerte auf dem dunklen, stählernen Lauf. »Er ist ein Zauberer, und niemand hat es vermocht, an ihn heranzukommen, aber diese Waffe ist stärker als Zauberei.« Er warf Maya einen Blick zu und sagte mit bewusster Grausamkeit: »Du hast ja gesehen, wie sie bei Muto Taku gewirkt hat.«
    Maya erwiderte nichts, sondern dachte gefasst und ohne jede Sentimentalität an Takus Tod. Er war nicht unehrenvoll

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