Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
enthüllte die Haut ihres Unterarms, glatt und dunkel, ganz wie die seine, ganz wie die seiner Mutter. Der Schock war groß, erschütterte seine Selbstbeherrschung, ließ ihn wieder zu einem verängstigten, verfolgten Jungen werden. Die Frau keuchte und sagte: »Tomasu?«
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Eine Gefühlsaufwallung ließ ihren Körper erbeben. Takeo erinnerte sich an ein kleines Mädchen, das genau so um einen toten Vogel oder ein verlorenes Spielzeug geweint hatte. In all den Jahren hatte er geglaubt, sie wäre tot, läge neben ihrer toten Mutter und ihrer älteren Schwester – sie hatte deren ruhige, breite Gesichtszüge geerbt und sie hatte seine Haut. Zum ersten Mal seit mehr als sechzehn Jahren sprach er ihren Namen laut aus:
    Â»Madaren!«
    Dies fegte alles andere aus seinen Gedanken: die Bedrohung von Osten, Fumios Auftrag, die geschmuggelten Feuerwaffen zurückzuholen, Kono, selbst den Schmerz, selbst das Kirin. Er konnte nur noch die Schwester anstarren, die er für tot gehalten hatte. Sein gegenwärtiges Dasein schien zu schmelzen und zu verblassen. In seiner Erinnerung gab es nur noch seine Kindheit, seine Familie.
    Ishida sagte: »Lord, geht es Ihnen gut? Sie wirken angeschlagen.« Zu Madaren sagte er rasch: »Sag Don João, dass ich ihn morgen besuche. Schickt mir eine Nachricht nach Daifukuji.«
    Â»Ich komme morgen dorthin«, sagte sie, den Blick auf Takeos Gesicht geheftet.
    Takeo gewann seine Selbstbeherrschung wieder und sagte: »Wir können jetzt nicht reden. Ich komme nach Daifukuji. Warte dort auf mich.«
    Â»Möge er dich segnen und behüten«, sagte sie und benutzte damit die Abschiedsformel der Verborgenen. Obwohl den Verborgenen inzwischen auf seine Anordnung hin gestattet war, ihrem Gott öffentlich zu huldigen, schockierte es ihn, das zu hören, was einst geheim gewesen war. Das Kreuz auf Don Joãos Brust war auch eine zu offensichtliche Zurschaustellung.
    Â»Es geht Ihnen schlechter, als ich dachte!«, rief Ishida aus, als sie draußen standen. »Soll ich eine Sänfte rufen?«
    Â»Nein, natürlich nicht!« Takeo holte tief Luft. »Die Luft war einfach zu stickig. Und ich habe zu schnell zu viel Wein getrunken.«
    Â»Und Sie hatten einen schlimmen Schock. Kennen Sie die Frau?«
    Â»Ich habe sie vor langer Zeit gekannt. Ich wusste nicht, dass sie für die Fremden dolmetscht.«
    Â»Ich bin ihr schon einmal begegnet, wenn auch nicht kürzlich – ich war ja mehrere Monate fort.« Die Stadt wurde stiller, ein Licht nach dem anderen wurde gelöscht, der letzte Fensterladen geschlossen. Als sie über die Holzbrücke vor dem Umedaya gingen und im Anschluss in eine der schmalen Straßen einbogen, die zur Residenz führten, bemerkte Ishida: »Sie hat nicht Lord Otori, sondern jemand anderen in Ihnen erkannt.«
    Â»Wie gesagt: Ich kannte sie vor langer Zeit, noch bevor ich ein Otori wurde.«
    Takeo war durch die Begegnung immer noch wie vor den Kopf gestoßen – und mehr als geneigt, zu bezweifeln, was er gesehen hatte. Konnte sie es wirklich sein? Wie hatte sie das Massaker überlebt, bei dem seine Familie vernichtet und das Dorf zerstört worden war? Sie war auf keinen Fall nur Dolmetscherin, das hatte er an den Händen und Augen Don Joãos gemerkt. Wie alle anderen Männer besuchten auch die Fremden Freudenhäuser, doch es gab nur wenige Frauen, die mit ihnen schlafen wollten. Nur die niedersten Prostituierten gingen mit ihnen. Er bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, wie ihr bisheriges Leben verlaufen sein mochte.
    Trotzdem hatte sie ihn bei seinem Namen gerufen. Und er hatte sie erkannt.
    Am letzten Haus vor den Toren der Residenz zog Takeo Ishida in den Schatten. »Warten Sie hier kurz. Ich muss ungesehen hinein. Ich werde den Wachen befehlen, Sie einzulassen.«
    Die Tore waren schon geschlossen, doch er stopfte den langen Saum seines Gewandes in die Schärpe und schwang sich problemlos über die Mauer. Beim Aufprall auf der anderen Seite durchzuckte ihn wieder der Schmerz. Er machte sich unsichtbar, huschte durch den stillen Garten und vorbei an Jun und Shin in sein Gemach. Er zog sich wieder das Nachtgewand an, verlangte Lampen und Tee und schickte Jun los, damit die Wachen Ishida hereinließen.
    Der Arzt kam. Sie begrüßten einander so herzlich, als hätten sie sich seit sechs Monaten nicht

Weitere Kostenlose Bücher