Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Sonnenaufgang, als der Tag noch kühl gewesen war, und nach und nach entspannten sich ihre Glieder immer mehr, bis von ihrer formellen Schreibhaltung nichts mehr übrig war. Die Zwillinge hatten Shigeko ohne viel Mühe dazu überreden können, die Rolle mit den Tierbildern auszubreiten und ihnen Geschichten zu erzählen.
Doch offenbar kamen selbst die besten Geschichten nicht ohne eine Moral aus. Shigeko sagte ernsthaft: »Das ist ein vorbildliches Verhalten für uns. Wir sollten unserLeben opfern, damit es für alle fühlenden Geschöpfe von Nutzen ist.«
Maya und Miki tauschten einen Blick. Sie liebten ihre ältere Schwester ohne Wenn und Aber, doch in letzter Zeit hielt sie ihnen etwas zu oft Predigten.
»Ich wäre lieber einer der Tiger«, sagte Maya.
»Und würde die toten Jünger fressen!«, stimmte ihre Zwillingsschwester zu.
»Irgendjemand muss schlieÃlich die Rolle der fühlenden Geschöpfe spielen«, argumentierte Maya, als sie sah, wie Shigeko die Stirn runzelte.
Wie so oft in letzter Zeit glänzte ein geheimes Wissen in ihren Augen. Sie war gerade von einem mehrwöchigen Aufenthalt in Kagemura zurückgekehrt, dem verborgenen Mutodorf, wo man ihre angeborenen Stammesfähigkeiten trainiert und verbessert hatte. Als Nächste wäre Miki an der Reihe. Die beiden Zwillinge verbrachten nur wenig Zeit miteinander. Warum, wussten sie nicht genau, ahnten aber, dass es mit der Einstellung ihrer Mutter ihnen gegenüber zu tun hatte. Ihr gefiel es nicht, sie zusammen zu sehen. Ihre Ãhnlichkeit stieà sie ab. Shigeko hingegen war immer von den beiden fasziniert gewesen, hatte sich immer auf ihre Seite gestellt und sie beschützt, selbst wenn sie die zwei nicht auseinanderhalten konnte.
Die Zwillinge bedauerten es, voneinander getrennt zu sein, aber sie hatten sich daran gewöhnt. Shizuka tröstete sie mit den Worten, die Trennung stärke ihre seelische Verbundenheit. Und das stimmte. Wenn Maya krank wurde, bekam Miki Fieber. Manchmal begegnetensie sich im Traum und dann konnten sie kaum unterscheiden, was in der Welt der Träume und was in der Wirklichkeit geschah.
Die Welt der Otori bot viele Entschädigungen â Shigeko, die Pferde, die schöne Umgebung, die ihre Mutter überall schuf, wo sie lebte â, doch beide zogen alldem das geheimnisvolle Leben des Stammes vor.
Am schönsten war es für sie, wenn sie im verborgenen Dorf des Stammes von ihrem Vater besucht wurden. Manchmal brachte er eine von ihnen hin und nahm die andere wieder mit zurück. Dann waren sie für ein paar Tage zusammen und sie konnten ihm vorführen, was sie gelernt und welche neuen Fähigkeiten sich gezeigt hatten. Und er, der sich in der Welt der Otori meist distanziert und formell verhielt, wurde in der Welt der Muto zu einem anderen Menschen, zu einem Lehrer wie Kenji oder Taku, der sie mit der gleichen, unwiderstehlichen Mischung aus strenger Disziplin, unmöglich hohen Erwartungen und steter Zuneigung behandelte. Sie badeten gemeinsam in den heiÃen Quellen und planschten mit ihm herum, geschmeidig wie junge Otter, fuhren mit den Fingern über die Narben, die sein Leben nacherzählten. Der dazugehörigen Geschichten wurden sie niemals müde, angefangen mit dem schrecklichen Kampf gegen den Kikutameister Kotaro, bei dem er die zwei Finger verloren hatte.
Bei der Erwähnung der Kikuta berührten beide Mädchen unbewusst mit den Fingerspitzen die tiefe Linie auf ihren Handflächen, die sie, genau wie ihren Vater, wie Taku, als Kikuta auswies.
Diese Linie symbolisierte den schmalen Grat, auf dem sie zwischen den Welten wanderten. Von Natur aus geheimnistuerisch, hatten sie begeistert die Künste von Verstellung und Täuschung gelernt. Sie wussten, dass ihre Mutter nichts von den Stammesfähigkeiten hielt und dass die Kriegerklasse sie als Zauberei betrachtete. Sie hatten schon früh gelernt, in den Residenzen von Hagi oder Yamagata das zu verbergen, was sie im Mutodorf stolz vorführen durften, aber manchmal war die Versuchung, ihre Lehrer hinter das Licht zu führen, ihre Schwester zu necken oder jemanden zu bestrafen, der sie geärgert hatte, einfach zu groÃ.
»Ihr seid genauso wie ich als Kind«, sagte Shizuka, als Maya sich einen halben Tag lang reglos in einem Korb aus Bambus versteckte oder als Miki mühelos und schnell wie ein wilder Affe auf die Dachbalken kletterte und
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